Ein Osterhase auf der Titanic

Was macht eigentlich der Osterhase, wenn gerade nicht Ostern ist?

Nun, ich kann natürlich nicht für alle Osterhasen sprechen, aber ich kenne da einen, der nach Ostern gerne die Löffel baumeln lässt – und schon seit geraumer Zeit seinen Traum-Urlaub plant: ein Tauch-Trip zur Titanic.

Er würde es nicht gerade jedem gegenüber zugeben, aber dieser Osterhase hat ein besonderes Faible für den Film von James Cameron und die Ästhetik des Schiffs vor seinem Untergang. Als er hörte, dass trotz der langen Zeit unter Wasser doch noch einiges erhalten geblieben ist, wollte er sich selbst ein Bild von dem Wrack machen. Doch wie kommt man als Osterhase zum Wrack der Titanic?

Nun, man muss etwas erfinderisch sein, einen langen Atem mitbringen – und ansonsten eine gewisse Sturheit besitzen. Wie unser Osterhase.

Im Moment zählt er die Sekunden, Minuten, Stunden und Tage, die ihn noch von seinem Urlaubstrip der besonderen Art trennen. Zu seinem Unwillen ist es deutlich mehr Zeit, als ihm lieb ist. Und außerdem gilt es ja auch noch Ostern zu überstehen.

Das hält ihn aber nicht davon ab, die Zwischenzeit für weitere Recherchen zu nutzen – und sich natürlich schon mal in Gedanken auf die Titanic zu träumen …

Hase

Mit großen Augen nahm er die Pracht, die sich ihm darbot, in sich auf. Der Ozeandampfer, der vor ihm aufragte, war wirklich gigantisch, geradezu atemberaubend. Er hätte ewig dort stehenbleiben und das riesige Passagierschiff einfach nur anstarren können. Doch sein Freund Fabrizio schubste ihn vorwärts und über die Gangway auf den Luxusliner.

»Wenn wir schon Tickets für eine Reise nach New York gewinnen, sollten wir sie auch nutzen!«, krähte er.

Der Osterhase nickte schnell. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich auch an Bord ganz genau umzuschauen, als ausgerechnet dem schlagfertigen Küken zu widersprechen oder sich gar auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Während er langsam hinter Fabrizio hertapste und alles, was er sehen konnte, in sich aufsog, entging er nur knapp einer Kollision.

Eine Gruppe von Hasen, herausgeputzt in der neuesten Mode der Saison, kam auf sie zu, als gehörte ihnen das Schiff. Fabrizio hatte sich längst an die Reling gepresst, um ihnen auszuweichen, nur der Osterhase war traumwandelnd weitergegangen, hatte gleichzeitig alles in seiner Umgebung mit großen Augen bestaunt und doch die Neuankömmlinge nicht wahrgenommen. Erst ein nicht allzu dezentes Hüsteln riss ihn aus seiner Trance.

Der Osterhase zuckte zusammen, blinzelte und versuchte vergeblich, sich unsichtbar zu machen. Peinlich berührt und viel zu spät bat er endlich um Verzeihung, wich zur Seite und ließ die Gruppe passieren. Die Hasen würdigten ihn keines weiteren Blickes, besonders die beiden Häsinnen – eine ältere und eine jüngere – gingen so brüsk an ihm vorbei, dass ihre Kleidersäume gegen seine Beine schlugen. Nur ein Hase aus der Gruppe, er musste etwa in seinem Alter sein, schaute kurz über die Schulter zurück und lüpfte den Hut, als wollte er sich für das Verhalten der anderen entschuldigen.

Instinktiv hob der Osterhase grüßend die Pfote und lächelte dem anderen Hasen hinterher, auch noch, als dieser längst verschwunden war. Fabrizio war es schließlich, der ihn in die Realität zurückholte, indem er ihn mit dem Schnabel kräftig zwickte.

»Au!« Der Osterhase rieb sich die Seite und senkte eilig seine Pfote. Dann folgte er Fabrizio die Treppen hinunter zum Deck dritter Klasse.

Ihre Schlafgelegenheiten waren in Ordnung, allerdings nicht einmal im Ansatz vergleichbar mit dem Luxus, den er bei einem flüchtigen Blick in den Ballsaal der ersten Klasse gesehen hatte. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie die Kabinen der Gruppe wohlhabender Hasen ausgestattet sein mussten, denen sie vorhin begegnet waren.

Fabrizio bemühte sich redlich, ihm den Bereich der dritten Klasse schmackhaft zu machen, erzählte ihm von einer Party, die es später geben würde, von Spiel und Spaß. Doch alles, was den Osterhasen noch tags zuvor an Land begeistert hätte, erschien ihm nun wenig reizvoll.

So verabschiedete er sich bald von der munteren Runde um Fabrizio und stieg wieder hinauf an Deck. Er wusste, dass er aufpassen musste, wo er sich sehen ließ, doch er brauchte dringend frische Luft. Etwas Zeit für sich allein – und um zumindest von außen, durch Fenster und Türspalte, am Bordleben der Reichen und Berühmten teilzuhaben.

Langsam schlenderte er über das Deck, spähte verstohlen in die Räume, die ihm verwehrt waren, und langte schließlich am Bug des Schiffes an. Der Ausblick über das weite Meer, das schier endlose Blau – unten die sanften Wellen, oben der von Schäfchenwolken gezierte Himmel –, all das verzauberte ihn fast noch mehr als die prächtigen Gewänder der Damen und die eleganten Anzüge der Herren im Schiffsinneren. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich losreißen konnte.

Auf dem Rückweg erregte eine Bewegung an der Reling seine Aufmerksamkeit. Eine schwankende Gestalt am Metallgestänge. Der Osterhase lief näher, wollte helfen, falls seine Unterstützung nötig war, und blieb wenige Schritte von der Gestalt entfernt wie angewurzelt stehen.

Konnte das wirklich der Hase sein, dem er einige Stunden vorher kurz begegnet war? Der Osterhase riss sich aus seiner Starre und eilte zur Reling. Ja, er erkannte den Hut, den der andere Hase gelüpft hatte, und auch das Gesicht darunter.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Osterhase, obwohl offensichtlich war, dass dem nicht so war. Nicht so sein konnte.

Immerhin balancierte der andere Hase auf einer der Streben der Reling, hielt sich mal mit einer, mal mit zwei Pfoten fest, und wirkte ganz so, als würde er erwägen, ganz hinüber zu klettern – und womöglich gar über Bord zu springen.

»Kann ich helfen?« Der Osterhase hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Was machte man in einer solchen Situation?

»Ich bin übrigens Jack … äh, Oscar«, sagte er endlich, weil ihm nichts anderes einfiel.

»Jack Oscar?« Der andere Hase schaute kurz über die Schulter zu ihm und schüttelte den Kopf. »Das ist ein sonderbarer Name.« Er schwankte wieder und hielt sich zitternd an der Reling fest, schaute aber wieder starr aufs Meer hinaus.

»Nein … Ja. Also … Ich heiße nur Oscar«, brachte der Osterhase schließlich hervor, trat instinktiv näher und legte eine Pfote auf die des anderen Hasen. »Und du? Ähm, Sie?«

»Ross.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Ross. Ähm, wenngleich ich mir natürlich angenehmere Umstände dafür gewünscht hätte.«

Das hob die Mundwinkel des anderen Hasen. »Freut mich ebenfalls.« Er löste seine freie Hand von den Metallstreben, wandte sich dem Osterhasen ganz zu und schaute ihn an. »Danke. Ich wollte vorhin einfach nur noch allein sein, aber jetzt bin ich sehr froh, dass jemand vorbeigekommen ist.«

Oscar erwiderte das Lächeln. Doch bevor er etwas sagen konnte, fegte ein Windstoß über das Deck. Dem Osterhasen zerzauste die steife Brise das Fell und ließ seine Löffel schlackern, Ross allerdings brachte die Böe aus dem Gleichgewicht. Er schwankte, dann stürzte er nach vorne – geradewegs über die Reling.

Instinktiv umklammerte Oscar die Pfote des anderen Hasen, auf die er kurz zuvor seine eigene gelegt hatte. Er wusste nur eins: Auf gar keinen Fall durfte er loslassen! Denn sonst würde Ross das Schicksal seines Hutes ereilen, der bereits auf den Schaumkronen der Wellen schaukelte.

Ross baumelte schreckensstarr und mit aufgerissenen Augen an der Außenwand des Schiffes, der Osterhase rief um Hilfe und stemmte beide Hinterläufe gegen die Reling, um nicht durch Ross‘ Gewicht ebenfalls über Bord gezogen zu werden. Und er ließ nicht los.

Er umklammerte die Pfote des anderen Hasen immer noch, als gleich mehrere Mitglieder der Besatzung angerannt kamen, und auch weiter, als sie Ross wieder sicher aufs Schiff zerrten. Pfote in Pfote und schwer atmend saßen sie bald darauf nebeneinander auf dem Deck.

»Danke, dass du nicht losgelassen hast«, keuchte Ross schließlich.

»Keine Ursache«, gab der Osterhase ebenso atemlos zurück.

Erst als die beiden Häsinnen, die zuvor zusammen mit Ross im Schlepptau übers Schiff stolziert waren, bei ihnen anlangten, löste der langsam und verstohlen seine Pfote aus Oscars Griff.

»Wie kannst du mir einen solchen Schrecken einjagen!«, rief die jüngere Hasendame. Und die ältere fügte hinzu: »Das war wirklich unverantwortlich. Hast du denn nicht an deine Braut gedacht?«

Der Osterhase schaute von den beiden Häsinnen zu Ross und neigte fragend den Kopf.

Ross wiederum schien die ganze Situation unglaublich peinlich zu sein. Er rappelte sich mit einem gequälten Lächeln auf. »Ruth, Calley – ich möchte euch meinen Retter, Oscar, vorstellen. Oscar, dies sind Calley und Ruth, meine … Verlobte und meine zukünftige Schwiegermutter.«

»Nett, Sie, äh, kennenzulernen«, brachte der Osterhase mehr schlecht als recht hervor.

Die beiden Häsinnen nickten ihm nur kurz zu und richteten ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf Ross.

Der sah aus, als ließe er ihre Bemühungen nur widerwillig über sich ergehen, und als sie ihn schließlich wegführten, warf er dem Osterhasen einen Blick zu, den dieser nur als flehentlich interpretieren konnte.

Und doch – was sollte Oscar schon tun? Es war zwar offensichtlich, dass Ross nicht gerade glücklich war … aber er musste immerhin der Verlobung zugestimmt haben. Oder wurden die Hasen der gehobeneren Schichten auch gegen ihren Willen verheiratet?

Kopfschüttelnd ging der Osterhase wieder unter Deck. Für den Moment hatte er alles für Ross getan, was in seiner Macht stand – hatte ihm immerhin das Leben gerettet –, mehr fiel ihm gerade nicht ein. Dennoch nahm er sich vor, in den nächsten Tagen die Augen aufzuhalten und einen Zeitpunkt abzupassen, wenn der andere Hase allein war. Auch wenn es ihn eigentlich nichts anging, das war ihm klar, wollte Oscar mehr wissen. Mehr über Ross. Und auch darüber, was genau ihn dazu veranlasst hatte, auf die Reling zu steigen.

Hase

Obwohl Oscar kaum etwas anderes machte, als Ausschau nach Ross zu halten, dauerte es mehrere Tage, bis er den anderen Hasen allein zu Gesicht bekam. Schnell eilte er auf ihn zu.

»Wie geht es dir?« Der Osterhase hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. Schließlich konnten jeden Moment die beiden Häsinnen um die nächste Ecke biegen.

Ein leichtes Lächeln hob Ross‘ Mundwinkel. »Jack Oscar!«

»Nur Oscar.« Der Osterhase spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg.

Der andere Hase grinste. »Ich weiß.«

»Wie geht es dir?«, wiederholte Oscar seine Frage.

Ross zuckte mit den Schultern. »Ich lebe. Dank dir. Viel mehr gibt es nicht zu berichten.«

»So schlimm?« Der Osterhase hatte es als Scherz gemeint, doch als er die Miene des anderen Hasen sah, wurde er schnell wieder ernst. Er schluckte. »Darf ich dich etwas fragen?«

Ross musterte ihn bedächtig und nickte dann leicht.

»Ich habe mich in dem Augenblick nicht getraut … aber … wolltest du wirklich springen?«

»Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.« Ross schaute an Oscar vorbei in die Ferne. »Ich weiß, dass ich nur noch wegwollte, dass mir alles zu viel wurde. Und im nächsten Moment fand ich mich an der Reling wieder. Wärst du nicht gekommen …« Er verstummte und senkte den Blick.

»Ich bin jedenfalls erleichtert, dass du nicht gesprungen – und nicht gefallen – bist.« Wieder einmal war der Osterhase froh, dass dank seiner Schlappohren niemand sehen konnte, wie rot die sonst so helle Haut seiner Löffel in diesem Moment sicherlich geworden war.

»Ich auch, glaube ich.« Ross verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Auch wenn ich so weiterhin Calley – und Ruth – an der Backe habe.« Er seufzte.

»Was hat es eigentlich damit auf sich?«, hakte Oscar nach. »Du bist verlobt, aber willst das gar nicht?«

Ross nickte. »So ziemlich. Calleys Familie soll mit ihrem Geld meine vor dem finanziellen Ruin retten – und sie wiederum profitieren vom Ansehen meiner Familie. Eine Pfote wäscht die andere.«

»Also liebst du sie nicht?«

Ross schnaubte. »Wie könnte ich? Ich -« Er schaute sich nach allen Seiten um und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: »Ich, ähm, interessiere mich nicht für Häsinnen.«

Der Osterhase neigte leicht den Kopf. »Du meinst …?«

Ross nickte.

»Und trotzdem heiratest du?«

»In unseren Kreisen ist etwas anderes keine Option.« Ross verzog das Gesicht. »Da hast du es sicherlich einfacher.«

»Ich?« Oscar gab sich überraschter, als er es war.

Ross grinste. »Als hätte ich den Blick nicht bemerkt, mit dem du mich bei unserer ersten Begegnung bedacht hast.«

»War ich so auffällig?«

»Wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss – ja. Außerdem war dein langes Winken recht deutlich.«

»Das hast du mitbekommen?« Der Osterhase hätte sich in diesem Moment am liebsten in Luft aufgelöst, doch aus diversen anderen Situationen wusste er, dass er so leicht leider nicht davonkam.

Ross nickte, griff dann verstohlen nach Oscars Pfote und drückte sie leicht. »Kein Grund, sich zu schämen. Ich fühlte mich eher geschmeichelt.« Er zwinkerte dem Osterhasen zu.

Oscar war zumute, als säße er in einem Feld ganz aus Löwenzahn – nur noch viel besser. Er war ziemlich sicher, dass sein Grinsen von einem seiner Löffel bis zum anderen reichte.

Ross lächelte ihn ebenfalls an, schaute sich noch einmal um und drückte dem Osterhasen dann einen flüchtigen Kuss auf die Lippen.

Oscar war so verdutzt, dass er nicht reagierte. Sich nicht bewegen konnte, sprechen sowieso nicht. Er stand einfach nur da, während sein Herz in seiner Brust Purzelbäume schlug.

Hase

Eine leichte Berührung an seiner Pfote ließ ihn zusammenzucken – und riss ihn jäh aus dem Schlaf. Unwillig rieb sich der Osterhase die Augen, wollte sich in seinen Tagtraum zurückflüchten und wusste doch, dass der leider warten musste.

Er blinzelte. »Was ist denn los?«, fragte er mürrisch. »Könnt ihr nicht mal fünf Minuten ohne mich auskommen?«

»Es gibt einen Notfall«, fiepte Fabrizio.

Nein, nicht Fabrizio, korrigierte sich der Osterhase in Gedanken. Das Küken heißt Klaus.

»Die Hennen streiken! Sie wollen keine Eier mehr hergeben.«

Seufzend erhob sich der Osterhase. Es war wirklich jedes Jahr dasselbe! Immer kurz vor Ostern drehten die Hennen durch.

»Ich kümmere mich darum«, knurrte er an Klaus gewandt und das Küken eilte, halb trippelnd, halb flatternd von dannen.

Bald, sagte sich der Osterhase. Bald kann ich mir eine Auszeit nehmen. Doch vorher musste er noch Ostern retten – wieder einmal.

Diese hasige Geschichte – die beim Schreiben ein kleines bisschen umfangreicher wurde als geplant – ist ein Spin-off eines noch unveröffentlichten Projekts, in dem selbiger Osterhase wider Willen die Rolle des Weihnachtsmannes übernimmt. Doch dazu mehr an anderer Stelle. 😉

Diese Geschichte ist außerdem Teil des Oster-Autoren-Kalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem/r anderen Autor*in rund um das Thema Ostern. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten von 2019 stöbern.