Adventszeit mit Mistelzweig und leuchtenden Pilzen
Anneliese stellte ihre vom Schnee tropfenden Stiefel zum Trocknen auf ein Gitter am Eingang des ehemaligen Leuchtturms, hängte den feuchten Mantel an die Garderobe und schlüpfte in ihre warmen Pantoffeln. Dann stieg sie die Wendeltreppe bis zur Küche hinauf und steckte schnuppernd den Kopf durch die Türöffnung. »Was braust du denn da Leckeres zusammen?«, fragte sie an Gertrud gewandt.
»Sie macht Glühwein«, erwiderte Walter an Gertruds Stelle. »Aber sie will mir nichts davon abgeben.«
Anneliese grinste den Frosch an, dessen Terrarium auf einem Regal in Fensternähe stand. »Du weißt genau, dass du in deinem aktuellen Körper keinen Glühwein verträgst. Aber wir können dir gerne ein paar Fliegen schokolieren, wenn dich das weihnachtlicher stimmt.«
Walter blies seine Schallblase auf, vermutlich, um eine Beschwerdetirade auszustoßen, doch Anneliese ignorierte ihn. Sie trat zu Gertrud an den Herd und gab ihrer Liebsten einen Kuss auf die Wange.
Die deutete nach oben. »Wenn schon, dann richtig«, meinte sie schalkhaft und strich sich eine graue Strähne hinters Ohr.
Anneliese folgte ihrem Blick, erspähte den Wald an Mistelzweigen, den Gertrud an der Küchendecke befestigt hatte, und lachte schallend. Als sie sich wieder beruhigt hatte, drehte sie ihre Liebste ganz zu sich und drückte ihr einen innigen Kuss auf die Lippen. »Besser?«, fragte sie leise an Gertruds Mund.
»Besser«, bestätigte die und erwiderte den Kuss. Dann schob sie Anneliese zur Sitzbank am Kachelofen. »Setz dich und wärm deine alten Knochen.«
Schmunzelnd ließ Anneliese sich auf die Kissen sinken und lehnte ihren von der Kälte steifen Rücken an die Kacheln. Sie schloss die Augen und genoss die wohlige Wärme, die sich schon bald in ihrem Körper ausbreitete. Als sie sich nicht mehr wie ein Eiszapfen fühlte, hob sie die Lider und betrachtete Gertrud, die geschäftig durch die Küche wirbelte und immer wieder in einem großen Topf auf dem Herd rührte. »Was genau hast du alles vor?«, fragte sie schließlich. »Weihnachten ist doch erst in einigen Wochen.«
»In wenigen Wochen«, betonte Gertrud. »Und wir haben noch so viel zu tun!« Sie schaute Anneliese an und hob eine Braue. »Du könntest dich zum Beispiel endlich um die Weihnachtsbeleuchtung kümmern.«
»Endlich?« Anneliese schüttelte grinsend den Kopf. Es war jedes Jahr dasselbe: Für Gertrud konnte Weihnachten gar nicht früh genug kommen – am liebsten hätte sie schon Anfang November alles geschmückt und dann einen Monat länger in adventlicher Stimmung geschwelgt. Auch wenn Anneliese diese Begeisterung nur schwer nachvollziehen konnte, ließ sie sich weitgehend klaglos in Gertruds umfangreiche Vorbereitungen einspannen: Ihre Liebste vorweihnachtlich glücklich zu sehen, war (fast) jede Mühe wert!
Sie streckte sich mit einem übertriebenen Seufzer. Sich um die Weihnachtsbeleuchtung zu kümmern, hieß, dass sie bewaffnet mit mehreren Körben in den Wald stiefeln musste, um leuchtende Pilze zu sammeln – Helmlinge oder den Honiggelben bzw. Dunkelbraunen Hallimasch, zum Beispiel. Am besten zusammen mit der Borke oder den Ästen, auf denen sie wuchsen, damit sie auch die ganze Adventszeit überdauerten.
Die Pilze, die des Nachts in verschiedenen Grünschattierungen leuchteten, einige auch mit einem Stich ins Blaue oder Orange, machten sich besonders auf dem Fenstersims gut als Dekoration. Allerdings brauchte man so einige davon, wenn es wirklich weihnachtlich aussehen sollte …
»Wenn du schon darüber nachdenkst, wie du Gertrud ihre Wünsche erfüllen kannst«, sprach Walter in ihre Gedanken hinein, »dann solltest du auch meine schokolierten Fliegen nicht vergessen. Und ich fände es schön, wenn du mir Weihnachtsgeschichten erzählst – eine pro Tag wäre nett.«
Anneliese schnaubte. »Tägliche Weihnachtsgeschichten? Hat der Herr Ex-Prinz sonst noch Wünsche?«
Walter blies erneut seine Schallblase auf – wahlweise, um sich darüber zu beschweren, dass sie seine ungeliebte Vergangenheit erwähnt hatte, oder, um ihr eine ganze Liste an Wünschen zu diktieren.
Doch bevor er etwas sagen konnte, winkte Anneliese ab. »Du kannst mir gerne später alles erzählen, was dich bewegt, jetzt sollte ich mich offenbar um die Weihnachtsbeleuchtung kümmern.« Sie schloss noch einmal kurz die Augen und genoss die Wärme an ihrem Rücken, dann erhob sie sich mit einem leisen Ächzen.
Ginge es rein nach ihr, würde sie die Winterzeit einfach gemütlich am Ofen verbringen und das Haus erst im Frühjahr wieder verlassen. Von drinnen sah die verschneite Landschaft recht nett aus, aber draußen war es eindeutig zu nass und zu kalt.
Mit schweren Schritten schleppte sie sich wieder Richtung Treppe, um erneut vor die Tür zu gehen. Doch sie hatte die erste Stufe noch nicht erreicht, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.
»Wo willst du denn schon wieder hin?«, fragte Gertrud.
Anneliese drehte sich zu ihr um. »Mich um die Weihnachtsbeleuchtung kümmern – wie du gesagt hast.«
»Aber doch nicht jetzt.« Gertrud lächelte und stupste ihre Liebste an. »Merkst du es etwa nicht mehr, wenn ich dich necke?«
Anneliese schaute sie verwirrt an. »Du willst doch noch keine Weihnachtsbeleuchtung?«
»Schon. Aber das können wir auch später bei einem gemeinsamen Spaziergang erledigen.« Gertrud drückte Anneliese einen Kuss auf die Wange. »Jetzt würde ich gerne erst einmal mit dir den ersten Glühwein verkosten.«
Diese Geschichte ist ein Spin-off zu einem noch unveröffentlichten Projekt, zu dem es auf Instagram und Mastodon aber bereits unter dem Hashtag #HexeLeuchtturmFrosch (AT) einige erste Infos gibt.
Außerdem ist dieser Text Teil des Autoren-Adventskalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem*r anderen Autor*in rund um die Themen Winter, Advent und Weihnachten. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten der Vorjahre stöbern.