Das Ostara-Fest

Mit gemischten Gefühlen saß Carolin in der Bahn. Einerseits freute sie sich auf die Ostara-Feier, andererseits war sie nervös. Wie es wohl sein würde, einen Wicca-Zirkel kennenzulernen?

Gerade rechtzeitig, bevor sich die Türen wieder schlossen, stieg Carolin an der Haltestelle Rodenkirchen Bahnhof aus und lief den Rest des Wegs zu Fuß. Bis zum Forstbotanischen Garten war es nicht weit, bis zu der Stelle im Friedenswald, die Odette ihr beschrieben hatte, dauerte es aber doch etwas länger. Zum Glück war der Pfad mit bunten Bändern markiert, sodass sie sich nicht verlaufen konnte.

Kurz bevor sie auf die Lichtung trat, blieb Carolin stehen, atmete tief durch und wappnete sich für alles, was sie erwarten mochte. Und doch blinzelte sie überrascht, als sie am Treffpunkt ankam: Mit einer so bunten Mischung an Menschen hatte sie nicht gerechnet!

Personen, die wie sie mehr oder minder in Alltagskleidung steckten, standen neben Gestalten in langen Roben. Kinder spielten neben alten Leuten und eine überraschende Zahl an Jugendlichen in ihrem Alter war ebenfalls da.

Während sie sich suchend umblickte, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass ihr jemand zuwinkte. Carolin schaute genauer hin – der blonde Lockenschopf kam ihr einigermaßen vertraut vor. Das musste Odette sein! Auch wenn sie abgesehen davon nicht wiederzuerkennen war: Anstelle ihrer sonst lockeren Kleidung mit leichtem Ethno-Hauch trug sie eine lange Robe.

»Schön, dass du hier bist!« Sie strahlte Carolin an.

»Ist das immer so … bunt?«, fragte die, leicht überwältigt von den Eindrücken.

»Bei den öffentlichen Hochfesten schon. Der engste Kreis des Zirkels zählt vielleicht zehn Mitglieder, mal ein paar mehr, mal ein paar weniger. Aber wenn alle davon Freunde einladen, ihre Kinder mitbringen, Bekannte und potenzielle Neu-Wiccas …« Sie machte eine ausholende Armbewegung, die die ganze Lichtung einschloss. »Dann hast du eine so große Menschenmenge. Einige nehmen auch an den Ritualen teil, andere sind eher wegen des anschließenden Essens hier. Das können alle frei entscheiden.«

»Klingt gut.« Carolin nahm den Leinenbeutel von ihrer Schulter. »Ich habe Kekse als Gastgeschenk dabei – und ein paar Blumen aus unserem Garten.«

»Das ist lieb von dir. Die Kekse kannst du dort drüben abstellen.« Odette deutete an den Rand der Lichtung, wo einige Tische aufgestellt waren. »Und die Blumen legen wir mit auf den Altar, würde ich sagen.« Damit drehte sie sich um und ging.

Carolin schaute ihr einen Moment verdattert nach, dann beeilte sie sich, ihr zu folgen. Erst jetzt, als sie aus der Menschenmenge heraus und auf die Mitte der Lichtung zu liefen, sah Carolin, dass dort vier Baumstümpfe platziert waren. Daneben war eine kleine Sandstelle mit einem Feuerkorb. Auf jedem Baumstumpf stand eine Kerze, zusammen mit mehreren Schalen und einigen Gegenständen, wahrscheinlich magischen Werkzeugen. Blumenranken waren um die Baumstümpfe drapiert, weitere Blüten zierten den Kreis, den die Kerzen bildeten. Auf Odettes Aufforderung hin legte Carolin ihre Blumen dazu. […]

Bevor sie sich weiter umschauen konnte, trat eine Gruppe von gewandeten Gestalten in die Mitte der Lichtung und blieb neben dem Natur-Altar stehen. Eine von ihnen ließ den Blick über die Anwesenden schweifen und ergriff das Wort: »Schön, dass ihr alle hier seid! Ich heiße euch, auch im Namen meiner Wicca-Schwestern, herzlich zum heutigen Ostara-Fest willkommen. Für diejenigen unter euch, die zum ersten Mal dabei sind: Wir führt erst ein Gruppen-Ritual durch, bei dem ihr eure Wünsche und Bitten der Göttin und dem Gott vortragen könnt. Wenn ihr teilnehmen möchtet, kommt bitte in den Kreis, den wir gleich ziehen werden – und bringt eure Opfergaben mit. Danach werden wir gemeinsam feiern – auf dass die kommenden Monate für uns alle reich und erfüllt sind!«

Carolin überlegte. Sollte sie an dem Ritual teilnehmen? Oder sollte sie lieber am Rand stehen bleiben?

Sie haderte noch mit sich, als Odette sie zu sich winkte. »Komm! Wenn du eine richtige Wicca-Erfahrung haben möchtest, musst du schon mitmachen.«

Zögernd ging Carolin zu ihr. Als Odette sich wieder den anderen des Zirkels anschließen wollte, um ihnen beim Durchführen des Rituals zu helfen, hielt Carolin sie zurück: »Warte. Ich habe gar kein Opfer dabei. Ich wusste nicht –«

Odette lächelte und griff in eine Tasche ihrer Robe. Dann drückte sie Carolin einen kleinen Gegenstand in die Hand. »Es ist nur eine Kerze, aber das reicht. Wenn die Zeit für die Opfer und Bitten gekommen ist, kannst du immer noch überlegen, ob du sie anzündest und der Göttin widmest – oder nicht.«

»Da-Danke«, wisperte Carolin, dann war Odette auch schon wieder von ihrer Seite verschwunden.

Etwas verloren stand Carolin mit einigen anderen in einem kleinen Pulk um den Natur-Altar. Dabei befühlte sie die Kerze, die Odette ihr gegeben hatte. Sie hatte eine sonderbare Form und war doch irgendwie vertraut. Verstohlen öffnete Carolin ihre Hand und betrachtete die kleine Wachsfigur. Es war eine Eule!

Länger konnte Carolin allerdings nicht über die Kerze nachdenken, denn die Frau, die die Ankündigung gemacht hatte – wahrscheinlich die Priesterin des Zirkels -, ergriff erneut das Wort. Sie bat alle um Ruhe und dann, einen Kreis in dem magischen Kreis zu bilden, den sie gerade mit ihren Wicca-Schwestern gezogen hatte.

»Wir beginnen nun mit der Anrufung der Wächter«, fuhr sie fort und erklärte das weitere Vorgehen.

Carolin hörte aufmerksam zu und versuchte, sich alles zu merken. Als das Ritual begann, schielte sie immer wieder nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sie es annähernd richtig machte.

Gemeinsam mit den anderen Anwesenden drehte Carolin sich nach Osten, worauf die Priesterin einen rituellen Dolch hob und damit ein Pentagramm in die Luft zeichnete.

Dabei sagte sie: »Euros, Euros, Euros. Wir rufen Dich, Herr des Ostens, König der Winde und Meister aller Luftgeister. Auf dass Du diesen Kreis beschützt und uns mit Deiner Kraft erfüllst. Dafür erbieten wir Dir –«

Worauf die Menge antwortete: »Heil und Willkommen.«

Carolin bemühte sich, den anderen nachzueifern, ohne als Nachzüglerin allzu sehr aufzufallen.

Eine andere Wicca aus dem Zirkel trat vor und zündete an der nach Osten gewandten Seite des Feuerkorbs eine große gelbe Stumpenkerze an.

Dasselbe wiederholte sich mit Notus, dem Sonnenkönig und Herrn über das Feuerreich, sowie Zephyrus, dem Herrscher über das Wasser, und schließlich Boreas, dem Herrscher der Erde, der Berge und Täler. Jedes Mal wandten sie sich einer anderen Himmelsrichtung zu und jedes Mal wurde eine weitere Kerze auf dem Altar entzündet, sodass schließlich alle vier Kerzen brannten: eine gelbe, eine rote, eine blaue und eine grüne. Darauf folgte die Segnung der Teilnehmenden durch die vier Elemente – und endlich der Hauptteil des Rituals, bei dem sie ihre Wünsche der Göttin und dem Gott vortragen sollten.

Dazu entzündete die Priesterin den Feuerkorb in der Mitte und lud alle im Kreis Stehenden ein, mit ihren Gaben und Wunschzetteln vorzutreten. Carolin sah zu, wie andere ihre Blumen um die Opferstelle verteilten, ihre mitgebrachten Kerzen an allen vier Wächterkerzen anzündeten und in den kleinen Kreis um den Feuerkorb stellten. Die Zettel mit den Wünschen oder Anliegen wurden ins Feuer geworfen, einige sagten dazu leise »So sei es!«, andere kehrten schweigend an ihren Platz zurück.

Als Carolin an der Reihe war, zögerte sie. Was sollte sie sich wünschen? Und war das wirklich ohne Zettel in Ordnung? Hilfesuchend sah sie in die Mitte, wo der Zirkel stand, und suchte nach Odette. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte Odette und deutete mit dem Kopf auf das Feuer und die Opferstelle.

Carolin atmete tief durch, dann trat sie vor und ging zum Altar. Mit zitternden Händen holte sie die Eulen-Kerze aus ihrer Hosentasche und hielt den Docht nacheinander an alle vier Stumpenkerzen. Danach stellte sie ihre Kerze zu den anderen, die schon um den Feuerkorb herum brannten. Sie entschuldigte sich wortlos bei der Göttin und dem Gott, dass sie keinen Zettel mitgebracht hatte, und bat ganz allgemein um Führung und Beratung auf ihrem Weg und um Unterstützung dabei, in die Fußstapfen ihrer Großmutter zu treten. Dann kehrte sie an ihren Platz zurück.

Als das Ritual zum Ende kam und die Priesterin die vier Himmelsrichtungen abschritt und den einzelnen Wächtern dankte, dachte Carolin über die Zeremonie nach. Es war interessant gewesen, das auf jeden Fall, aber wie bei so einigem anderen der Wicca-Tradition fehlte ihr das direkte Resultat. Könnte sie einen Zauberstab schwingen, einen Spruch aufsagen und damit ihr Gegenüber in einen Frosch verwandeln – das wäre eine deutlich erkennbare Form der Magie.

Zum Abschluss bat die Priesterin alle Teilnehmenden, sich noch einmal an den Händen zu fassen, um den Kreis ein letztes Mal zu stärken und ihn dann durch gemeinsames Klatschen zu ›sprengen‹ und aufzulösen. Als das Klatschen verstummte, erklärte die Priesterin das Zeremoniell für beendet und eröffnete das festliche Zusammensein. »Lasset uns feiern, trinken und essen!«, rief sie. »Merry Meet!«

»Merry Meet!«, antworteten die anderen und strebten dann einzeln oder in Grüppchen zum Büfett. Carolin schloss sich ihnen an.


Dieser Text ist ein kleiner Auszug aus meinem Roman »Das Lied des Herbstmondes« (2021), in dem Protagonistin herausfindet, dass ihre Großmutter eine Wicca war und selbst ausprobiert, wie es so wäre, auf ihren magischen Spuren zu wandeln. (Das Ostara-Fest im Wicca-Jahreskreis findet für gewöhnlich zur Frühlingstagundnachtgleiche statt, also dieses Jahr am 20. März.)

Für diejenigen, die das Buch noch nicht kennen, gibt es z.B. hier weitere Infos:
– Beitrag zum Coverreveal
– Beitrag zur Veröffentlichung

Außerdem ist dieser Text Teil des Osterspecials des Autoren-Adventskalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem*r anderen Autor*in rund um die Themen Frühling und Ostern. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten der Vorjahre stöbern.