Weihnachten mit Patrick & Melissa

Die folgende Kurzgeschichte ist ein Spin-off zu meinem Roman »Träume voller Schatten«, das ich im Rahmen des Autoren-Adventskalenders verfasst habe. Ich wünsche euch eine gute Lesezeit!

Weihnachtsbaum

»Was machst du eigentlich an Weihnachten?«

Melissas Frage traf Patrick unvorbereitet. Weihnachten. Auch wenn es durch die weihnachtlichen Dekorationen überall in der Stadt, das Weihnachtsgebäck in den Supermärkten, die Weihnachtsmärkte an jeder Ecke und die allgegenwärtigen Weihnachtslieder kaum zu übersehen, überhören und überriechen war, dass Weihnachten nahte, hatte Patrick das Fest bisher verdrängt. Es ausgeblendet, wann immer es möglich war.

»Weiß nicht.« Er zuckte die Achseln.

»Du kannst doch unmöglich gar keine Pläne haben.« Melissa legte den Kopf schief. »Willst du das Fest nicht vielleicht mit deinen Eltern verbringen?«

Patrick hob eine Braue. »Mit meinen Eltern? Nein, danke. Da bleibe ich lieber allein.«

»Aber du kannst Weihnachten doch nicht allein verbringen.«

»Habe ich die letzten Jahre auch gemacht.«

»Aber …« Melissa schluckte. »Fändest du es nicht schöner, wenn du nicht allein sein müsstest?«

»Das kommt auf die Gesellschaft an.«

Ein leichtes Lächeln umspielte Melissas Mundwinkel. »Wie wäre es denn mit meiner Gesellschaft?«

Patrick runzelte die Stirn. »Verbringst du das Fest nicht mit deiner Familie?«

Nun hob Melissa die Schultern. »Habe ich in den letzten Jahren schon gemacht.«

»Wirst du sie nicht vermissen? Und die ganze Weihnachtsstimmung? Ich bin nicht gerade … äh, festlich gestimmt.«

Melissa grinste. »Och, das bekommen wir schon hin. Und meine Eltern werden es auch verkraften, wenn sie eine Tochter weniger da haben. Bleiben ja immer noch zwei. Außerdem könnten wir zum Beispiel ausmachen, dass ich den 24. und 25. mit dir verbringe und dann am 26. zu meinen Eltern fahre. Vorausgesetzt, du möchtest das überhaupt.« Sie schaute Patrick an und musterte ihn aufmerksam.

Instinktiv wollte Patrick ablehnen. Denn ihm war wirklich nicht nach Weihnachten zumute. Seit Jahren nicht. Und doch … Melissas Angebot rührte etwas in ihm, ließ ein warmes Gefühl in ihm aufsteigen, mit dem er nicht so recht umzugehen wusste.

Bevor er seine Stimme wiederfand, antwortete sein Körper: Er nickte stumm.

»Sehr schön! Dann sage ich eben meinen Eltern Bescheid.« Melissa umarmte ihn kurz, was er weiterhin sprachlos über sich ergehen ließ. Dann stand sie auf. »Bis später!«

»Bis später«, krächzte Patrick, der langsam die Kontrolle über seine Stimmbänder zurückerlangte.

Als die Tür hinter Melissa zufiel, schüttelte er den Kopf. Über sich selbst. Über Melissa. Und über das Weihnachtsfest, auf das er sich gerade eingelassen hatte.

Wenige Tage später hatte Melissa seine Wohnung auf den Kopf gestellt. So fühlte es sich zumindest im ersten Moment für Patrick an.

Da er selbst keine Weihnachtsdekoration besaß, hatte sie kurzerhand mehrere Kartons von ihren Sachen angeschleppt und den Inhalt in seiner Wohnung verteilt.

Seinen Einwand, dass sie dann keine Dekoration mehr für ihre eigenen vier Wände hätte, hatte sie mit einer Handbewegung zur Seite gewischt. »Ich trage das Weihnachtsgefühl in meinem Herzen. Dadurch fühlt es sich weihnachtlich an, wo immer ich bin«, hatte sie erklärt. Und hinzugefügt: »Bei dir dagegen steht noch einiges an Arbeit an.«

Nur kurz hatte er überlegt, ob er protestieren sollte. Schnell hatte er ihr das Feld überlassen – und auch stellenweise mitgeholfen. Weil sie nicht an alles drankam, sagte er sich. Weil er sie nicht die ganze Arbeit machen lassen konnte.

Doch ein ganz kleiner Teil von ihm hatte auch irgendwie eine gute Zeit dabei, freute sich vielleicht sogar über die Dekorationen und Melissas überschwängliche Weihnachtsstimmung.

»Was gefällt dir eigentlich so sehr an Weihnachten?«, fragte er schließlich, als sie zusammen den Adventskranz schmückten.

»Dass die Weihnachtszeit alle Menschen netter macht. Dass Familien zusammenkommen. Das Miteinander. Und die Menschlichkeit, die viele in dieser Zeit wiederentdecken. Oft hält das zwar nicht länger an als während der Feiertage, aber ich denke, die helfen durchaus. Alle haben einen Anlass, sich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist – und manche finden es sogar.«

Patrick runzelte die Stirn. »Und was ist mit den Streitereien, die erwachsen, weil so viele Menschen sich wiedersehen, die sonst aus gutem Grund nicht aufeinandertreffen? Mit den Weihnachtsbäumen, die abfackeln und ganze Wohnungen in Brand stecken?«

»Bist du sicher, dass du nicht nach einem Grund suchst, um Weihnachten immer noch blöd zu finden?«

»Ich finde Weihnachten nicht blöd. Ich verstehe nur nicht, was das ganze Getue drumherum soll. Wieso etwas erzwingen, was vielleicht gar nicht sein sollte? Und der Kommerz … ich weiß ja nicht.«

»Beim Kommerz stimme ich dir zu. Wie viel Geld einige Menschen für Weihnachten ausgeben, geht wirklich am Geist der Weihnacht vorbei. Was die vielleicht nicht immer ganz freiwilligen Familienzusammenführungen angeht, kann ich deine Meinung allerdings nicht teilen: Klar, es kommt auch mal zu Streit. Doch das gehört zum Leben dazu. Was allerdings auch zum Leben dazugehört, sind Familienbande. Für mich zumindest. Und ich denke, für viele andere auch.«

Patrick hob unschlüssig die Schultern. »Du kennst meine Einstellung zu Familienbanden …«

»Ich weiß, dass deine Beziehung zu deinen Eltern recht angespannt ist, ja. Ebenso, dass du in der Vergangenheit guten Grund hattest, nicht ihre Nähe zu suchen. Aber willst du wirklich an diesem Ärger festhalten? Ginge es dir nicht auch besser, wenn du diesen Teil deiner Vergangenheit hinter dir lassen könntest? Das muss doch unglaublich viel deiner Energie kosten.«

So hatte Patrick die Angelegenheit noch nicht betrachtet. Oder vielleicht nicht sehen wollen. Denn auch Frau Dr. Wollmüller hatte ihm immer wieder nahelegte, nach vorne zu blicken. Seine Zukunft zu planen. Anstelle immer wieder Ehrenrunden in seiner Vergangenheit zu drehen. Er seufzte. Aber es war so viel leichter, sich über seine Eltern aufzuregen, als ihnen zu verzeihen.

»Ich weiß immer noch nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er schließlich.

Melissa schaute ihn fragend an.

»In der Therapie habe ich es schließlich drangegeben, ihnen einen Brief schreiben zu wollen, um ihnen zu sagen, wie ich mich fühle. Das war einfach nicht das Richtige für mich. Aber genauso wenig habe ich es geschafft, anzurufen oder vorbeizufahren. Alles fühlt sich falsch an.« Er ließ den Kopf hängen.

»Wie wäre es mit einer Weihnachtskarte?«

»Einer Weihnachtskarte?« Patrick schaute hoch und sah Melissa skeptisch an.

»Na, du hast doch immer überlegt, wie du mit ihnen sprechen sollst – also, um die Vergangenheit gemeinsam abzuschließen. Aber vielleicht brauchst du erst mal einen unverfänglicheren Anlass, wieder Kontakt zu ihnen aufzunehmen.«

»Und was schreibe ich in diese Weihnachtskarte? Ich habe ihnen nichts zu sagen.«

»Du könntest es recht kurz halten. Es muss auch nicht allzu in die Tiefe gehen. Wünsch ihnen einfach schöne Festtage und einen guten Rutsch.«

»Hm.«

Während er noch überlegte, zog Melissa eine Weihnachtskarte aus einem der Kartons und legte sie vor Patrick auf den Tisch.

Er schüttelte den Kopf, konnte aber ein leichtes Grinsen nicht zurückhalten. »Du bist wirklich auf alles vorbereitet, oder?«

Melissa erwiderte sein Lächeln. »Wenn es Weihnachten betrifft, immer.«

Weihnachtsbaum

So gewöhnte sich Patrick langsam an den Gedanken von Weihnachten, von einem neuen Gefühl Weihnachten gegenüber. Melissa und ihre Weihnachtsbegeisterung halfen ihm dabei enorm – ohne sie hätte er sich bestimmt schon nach den ersten adventlichen Probetagen wieder in seiner unweihnachtlichen Höhle verkrochen.

Mit ihrer Unterstützung lernte er, zumindest hier und da einen vorweihnachtlichen Moment zu genießen – wie zum Beispiel am Nikolaustag.

Er hatte natürlich nicht seine Stiefel vor die Tür gestellt – da wären sie wahrscheinlich ohnehin eher gestohlen, als mit Süßigkeiten gefüllt worden –, und doch erwartete ihn eine kleine Überraschung, als er an diesem Morgen die Wohnung verlassen wollte, um zur Arbeit zu gehen. Ein Schokoladen-Nikolaus stand auf seiner Fußmatte, um den Hals trug er ein goldenes Band mit einer Nachricht von Melissa: Ich hatte erst überlegt, dir eine Tasse Kakao vor die Tür zu stellen, mich dann aber doch dagegen entschieden. 😉 Betrachte diesen Nikolaus als Gutschein für ein Kakaobart-Date.

Patrick grinste. Und erinnerte sich an das letzte Mal, als sie zusammen Kakao getrunken hatten. Es war kein schöner Anlass gewesen, aber ein wichtiger Moment. Ein Moment, in dem er sich zum ersten Mal eingestanden hatte, dass er nicht auf Melissas Unterstützung verzichten wollte, dass sie die eine Person war, der er genug vertraute, um sie um Hilfe zu bitten.

In diesem Augenblick hätte er sie am liebsten ganz fest an sich gedrückt. Ein Impuls, der ihm eher selten kam. Doch sie war nicht da, nur der Nikolaus, den Patrick nun schon fast zärtlich betrachtete. Melissa war wirklich einmalig.

Weihnachtsbaum

Zum dritten Advent erreichte Patrick als Antwort auf seine Karte ein Brief von seinen Eltern. Sie schrieben, dass sie sich gefreut hatten, von ihm zu lesen. Dass sie hofften, er würde die Weihnachtstage nicht allein verbringen, sondern mit jemandem, der ihm etwas bedeutete. Dass er sich geliebt fühlte. Und sie gern mehr darüber erfahren würden, wie es ihm ging – wenn ihm das recht wäre.

Es war ein sonderbares Gefühl, diese Worte zu lesen. Irgendwie viel positiver, als er erwartet hatte. Er freute sich tatsächlich darüber, zumindest ein bisschen. Und irgendwie half es ihm auch generell weiter: Er dachte weniger oft darüber nach, wie er mit seinen Eltern Kontakt aufnehmen und mit ihnen reden könnte. Denn der erste Schritt war nun getan. Und dass sie sich möglichst bald aussprachen, war ihm allein dadurch schon weniger wichtig. Er fühlte sich zuversichtlich, dass es diese Aussprache eines Tages geben würde – wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.

Für den Moment war erst einmal der richtige Zeitpunkt gekommen, um Weihnachten wiederzuentdecken. Zumindest ein kleines bisschen.

So freute er sich tatsächlich auf die Zeit, die er mit Melissa zusammen verbringen würde – auf die Weihnachtspläne, die sie entworfen hatte. Weniger wegen Weihnachten an sich, sondern eher wegen dem, was Melissa darin sah. Miteinander. Zeit mit lieben Menschen. Etwas Nettes für jemand anderen tun.

Weihnachtsbaum

Deshalb machte Patrick sich auch noch kurz vor dem 24. auf die Suche nach einem Geschenk für Melissa. Er wusste, dass sie keines von ihm erwartete, aber gerade deshalb wollte er sie damit überraschen. Er wollte ihr eine Freude machen. Als kleines Dankeschön für alles, was sie ihm Gutes tat.

Er hatte bemerkt, dass ihr in ihrer Albumsammlung noch die neueste CD von Teagan and Sara fehlte. Darüber würde sie sich bestimmt freuen. Er hoffte einfach, dass sie sich das Album nicht schon von ihren Eltern gewünscht hatte – oder es sich selbst unter den Weihnachtsbaum legen wollte.

Also überlegte er sich zusätzlich einen Back-up-Plan: Er bastelte ihr einen Gutschein für einen Wunsch nach Wahl. Keine Fragen, keine Beschränkungen. Einfach, was sie sich wünschte.

Bei niemandem sonst würde er das machen. Doch er kannte Melissa. Wusste, was für ein Mensch sie war. Und war ziemlich sicher, dass sie sich nichts wünschen würde, was er ihr nicht erfüllen konnte.

Trotzdem war er aufgeregt, als der 24. Dezember nahte. Gut, das lag nur zu einem gewissen Teil an seinen Geschenken für Melissa. Vor allem lag es an Weihnachten selbst.

Er erinnerte sich noch dunkel an das letzte Weihnachtsfest, das er mit seinen Eltern gefeiert hatte – notgedrungen. Und auch wenn er wusste, dass er so etwas nicht mit Melissa erleben würde, so hatte das Fest doch nach wie vor einen faden Beigeschmack. Einen, von dem er hoffte, dass er durch die gemeinsame Zeit mit Melissa vielleicht zumindest etwas schwächer werden würde.

Sie hatten nichts Aufwändiges geplant. Einfach einen gemütlichen Tag unter Freunden – und Melissas Weihnachtsroutine. Dazu gehörte ein ganz gemütliches Frühstück. Im Anschluss wollte Melissa sich Drei Haselnüsse für Aschenbrödel anschauen, einen Film, den sie wohl jedes Jahr zur Weihnachtszeit im Fernsehen anschaute. Später stand ein Spaziergang an. Dann ein leichtes Mittagessen. Entweder mehr Weihnachtsfilme oder ein Spielenachmittag. Mit Bratäpfeln und Vanilleeis. Dann wollte sie sich Märchen im Radio anhören, während sie das Abendessen vorbereiteten. Und nach dem Essen kam dann die Bescherung.

Vor lauter Essen wusste Patrick schon jetzt nicht, wie er den 24. überstehen sollte, ohne zu platzen, doch er protestierte nicht. Einmal Weihnachten à la Melissa. Das hatte er ihr versprochen. Denn schließlich konnte er es nicht mit gutem Grund ablehnen, wenn er es nicht zumindest einmal ausprobiert hatte.

Außerdem, wenn er ehrlich war, wollte er ihr Weihnachten auch ausprobieren. Hoffte, dass er eine gute Zeit hatte. Dass er sich vielleicht sogar weihnachtlich fühlen würde. Dass etwas von ihrer Stimmung auf ihn abfärbte. Oder dass er zumindest eine gute Zeit mit ihr hatte – in der er einfach nicht dazu kam, schlechte Gedanken zu haben. Oder Weihnachten blöd zu finden.

Weihnachtsbaum

Na, was denkt ihr, wie es den beiden am 24. und 25. Dezember ergangen ist?

Für diejenigen, die Patrick und Melissa noch nicht kennen: Diese Kurzgeschichte ist ein kleiner Spin-off, der eine gewisse Zeit nach meinem Roman »Träume voller Schatten« spielt.

Mehr Informationen zum Buch findet ihr z.B. hier:

Weihnachtsbaum

Und wenn ihr jetzt Lust auf mehr adventliche Geschichten habt, möchte ich euch den Autoren Adventskalender ans Herz lesen. Dort öffnet sich jeden Tag bis Weihnachten ein weiteres Türchen, das mit einem Text von eine*r anderen Autor*in bestückt ist.

Das Beste daran: Ihr könnt die Geschichten auch noch lange nach Weihnachten lesen! Ebenfalls findet ihr dort Texte aus dem Vorjahr – die haben ja pratischerweise kein Verfallsdatum. 😉