Die Legende des Kartoffelvogels

Es war einmal eine Kartoffel, die eines Tages mit ziemlichen Rückenschmerzen aufwachte. Irgendetwas zog und zerrte da. Sie schüttelte sich, rüttelte die Erde um sich herum etwas lockerer – und breitete ihre Flügel aus.

Der erste vorsichtige Flügelschlag katapultierte sie aus ihrer Erdhöhle hinaus. Sie hing eine Millisekunde in der Luft, dann stürzte sie wieder zu Boden. Nach einem verdutzten Moment, in dem sie sich mit ihren neuen Flügeln die Augen rieb, richtete sie sich auf – und stellte dabei fest, dass sie passend zu den Flügeln auch Füße bekommen hatte. Sie hatten vier Krallen, vorne drei, hinten eine, und steckten an dünnen Beinen, die ihr direkt aus dem Leib gesprossen sein mussten. Sehr sonderbar. Aber durchaus nützlich, wie sie schnell feststellte. Denn so konnte sie sich – leicht staksig – mit einem etwas schwankenden Gang vorwärtsbewegen, anstatt von A nach B zu rollen.

Und noch etwas war anders: Wenn sie ein kleines bisschen schielte, sah sie, dass da etwas mitten in ihrem Gesicht gewachsen war. Etwas unterhalb und zwischen ihren Augen. Recht lang und spitz sah es aus – und war in demselben Gelb-Orange gehalten, das auch ihre neuen Beine und Füße hatten. Mehr konnte die Kartoffel nicht erkennen. Wozu das wohl taugte?

Um sich besser betrachten zu können, stakste die Kartoffel die schmale Furche zwischen den Dämmen entlang, in denen die anderen Knollen sicherlich noch tief schlummerten. Irgendwo hier musste doch eine Pfütze sein – oder etwas anderes, worin sie sich spiegeln konnte.

Sich spiegeln … Die Kartoffel verharrte einen Moment und verdrehte über sich selbst die Augen. Nie zuvor waren ihr solche Gedanken gekommen. Wieso auch? In der Erde war es gemütlich gewesen, sie hatte vor sich hingeschlummert und von gutem Boden und leckerem Wasser geträumt und war langsam der Wärme der Sonne entgegengewachsen. Sie hatte keinen Grund gehabt, sich um irgendetwas anderes zu kümmern.

[Seufzer machen] Ein Seufzen entrang sich dem sonderbar spitzen, gelb-orangen Ding in ihrem Gesicht. Dass sie Geräusche ausstieß, war auch neu. Probeweise seufzte sie erneut – und es klang sogar recht ähnlich wie beim ersten Mal. Neugierig versuchte sich die Kartoffel an weiteren Lauten – Ba – Ba – Le – Lo – Mi – Mu –, doch irgendwie klang das alles nicht wirklich überzeugend für sie. Lieber suchte sie weiter nach der Pfütze.

Als sie am Ende der Reihe ankam, fand sie tatsächlich ein kleines Loch, das sich mit Regenwasser gefüllt hatte. Vorsichtig trat die Kartoffel näher, wagte einen Blick auf die spiegelnde Oberfläche – und machte einen Satz zurück, der sie auf ihren Allerwertesten beförderte.

Nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, rappelte sie sich langsam wieder auf, näherte sich erneut dem Wasserloch, kniff für einen Moment die Augen zu – und schaute ihre Spiegelung dann erneut an. Diesmal war sie vorbereitet, trotzdem zuckte sie wieder leicht zusammen, als sie ihr Abbild sah. So sollte eine Kartoffel einfach nicht aussehen!

Ein krächzender Schrei über ihr ließ sie gen Himmel blicken, wo mehrere Vögel kreisten. Ja, die sollten so aussehen. Also, auch nicht genauso wie sie – das wäre ebenfalls falsch. Aber zu den Vögeln gehörten eigentlich die Körperteile, die nun an ihr steckten.

Sie war eindeutig keine Kartoffel mehr, aber auch definitiv kein Vogel. Was dann? Vielleicht eine Vogelkartoffel oder ein Kartoffelvogel?

Umrisszeichnung eines aufgeschlagenen Buchs, aus dem Sterne und Blasen aufsteigen.,

Wie es wohl für die Vogelkartoffel bzw. den Kartoffelvogel weiterging? Eine mögliche Fortführung gibt es in der Kurzgeschichte Gefiederte Kissenschlacht zu lesen. Weitere kurze Geschichten rund um dieses besondere Wesen werden sicherlich noch folgen.