Weihnachten für Anfänger

Fips hockte bibbernd im Schnee und betrachtete den Tannenbaum vor sich von oben bis unten. Vor seinem geistigen Auge waren die Zweige nicht vereist, sondern mit Girlanden geschmückt, mit Nüssen und Zapfen und ein bisschen Obst, und oben auf der Spitze prangte ein goldener Stern. Kerzen durften natürlich auch nicht fehlen. Doch das war nur sein Wunschtraum. So wünschte er sich Weihnachten. Dass es wirklich so aussehen würde, war eher zweifelhaft.

Denn so, wie er die anderen einschätzte, hatten die nicht viel übrig für das warme Gefühl, das sich in Fips schon ausbreitete, wenn er einfach nur an das Miteinander dachte, an die Herzlichkeit und Fröhlichkeit, die das Fest für viele Menschen bedeutete. Heimlich war er aus dem Haus gehuscht, die ausgetretenen Feldwege entlang bis zu den Wohnungen der Menschen und hatte seine Nase an die Fensterscheiben gedrückt. Schön sah es aus, wenn Eltern und Kinder beisammensaßen, sich unterhielten, Spiele spielten, gemeinsam aßen und alles schön illuminiert von Kerzenschein und mit adventlichen Dekorationen.

Er seufzte. Ja, so ein Fest wünschte er sich wirklich sehr. Auch wenn das wahrscheinlich wirklich etwas war, was nur Menschen taten. Das war zumindest letztes Jahr das Argument der anderen gewesen. Das, und dass Halloween einfach viel besser zu ihnen passte. Mit seinem Wunsch stand Fips also ziemlich allein da. Es half nicht gerade, dass seine Meinung in den Augen seiner Mitbewohner ohnehin weniger zählte, weil er nur der kleine Fips war. Ein junges Eichhörnchen und dazu noch nicht einmal untot.

Trübsinnig machte er sich auf den Rückweg. Es brachte nichts, sich länger zu quälen, lieber sollte er sich in sein Schicksal fügen: Kein Weihnachten für Fips. Kein Weihnachten für irgendein Tier.

***

Auf seinem Weg durch die Felder kam Fips auch an einem kleinen Wäldchen vorbei. Schnell lief er einen Baumstamm empor und sprang fortan von Ast zu Ast. Das ging deutlich schneller, als sich auf dem Boden fortzubewegen. Während er auf diese Weise von Baum zu Baum segelte und nur einmal verharrte, um sich an ein paar Bucheckern zu stärken, meinte er zwischen den kahlen Zweigen in der Ferne ein flackernden Licht zu sehen. Neugierig näherte er sich, Ast für Ast, und musste sich schließlich an einem Zweig direkt über der Lichtquelle festkrallen, um nicht vor Überraschung zu Boden zu stürzen.

Da unten war ein geschmückter Weihnachtsbaum! Er schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie dann wieder, um sicherzugehen, dass er sich nicht geirrt hatte, keine Halluzinationen hatte oder vielleicht sogar eingeschlafen war und gerade träumte. Doch als er die Lider wieder hob, war der geschmückte Tannenbaum immer noch da, ebenso wie die Tiere, die drumherum standen und die benadelten Zweige noch weiter dekorierten.

Also ging es doch! Tiere konnten sehr wohl Weihnachten feiern. Denn wieso sonst sollten die Rehe und Kaninchen, die Wildschweine und Spatzen dort unten gemeinsam einen Tannenbaum schmücken? Fips beugte sich neugierig weiter vor, aber so, dass er nicht doch den Halt verlor und mitten unter die Tiere stürzte. Da ihn niemand zu diesen festlichen Vorbereitungen eingeladen hatte, war er auch sicherlich nicht willkommen, wenn er einfach von oben in die Versammlung hineinplumpste. Lieber beobachtete er weiter aus dem Verborgenen. Und überlegte dabei, wie er dieses neue Wissen nutzen könnte, um die anderen davon zu überzeugen, ebenfalls Weihnachten zu feiern. Immerhin galt nun das Argument nicht mehr, dass Tiere so etwas nicht taten.

***

Daheim hüpfte das kleine Eichhörnchen voller Tatendrang ins Kaminzimmer, wo sich die anderen versammelt hatten, um eine Runde Kopf-Polo zu spielen. Dabei benutzten sie die Schädel der skelettierten Eichhörnchen als Bälle und die Gliedmaßen formten sie zu Schlägern. Fips grauste es immer, wenn er das sah. Obwohl er wusste, dass es den anderen Eichhörnchen natürlich nicht wehtat, immerhin waren sie längst untot und konnten zudem ihre Skelett-Einzelteile so zusammenbauen, wie es ihnen gerade passte. Trotzdem fiel es Fips schwer, den Anblick zu ertragen.

»H-Hallo? Ich bin wieder zu Hause.« Er fiepte es mehr, als dass er es rief, und so wunderte es ihn wenig, dass die anderen nicht reagierten.

»Ich habe gesehen, wie die Tiere im Wald sich auf Weihnachten vorbereiten«, sagte Fips etwas lauter. Immer noch keine Reaktion.

»Wäre es nicht schön, wenn wir auch Weihnachten feierten?«, rief er nun wirklich aus voller Lunge. Das wirkte.

Die Zombie-Meerschweinchen ließen ihre Schläger fallen, aus denen sich wieder die skelettierten Eichhörnchen zusammensetzten, und während die letzten einzelnen Schädel über den Boden schlitterten, wandte sich Zombie-Tick, das größte Meerschweinchen, zu ihm um. Der Augapfel, der nur noch an einem Sehnerv hing, baumelte ganz gefährlich, als Herr Tick mit großen Schritten auf Fips zukam und dann turmhoch über diesem aufragte. »Was hast du da gesagt?«

»I-Ich meinte … Ich …« Das kleine Eichhörnchen schluckte, es atmete einmal tief durch, um sich zu sammeln, und sagte dann mit fester Stimme: »Ich habe gefragt, ob wir nicht ebenfalls Weihnachten feiern können. Schließlich machen andere Tiere das auch.«

Für einen Moment herrschte Stille. Es war so leise, dass Fips sein schnell pochendes Herz ganz laut in seinen Ohren hörte. Und dann wurde er von einem dröhnenden Gelächter überflutet, das ihn in seiner Wucht ein paar Schritte rückwärts taumeln ließ. Das kleine Eichhörnchen spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen, doch Fips wollte nicht weinen – ganz sicher nicht vor den anderen. Deshalb blinzelte er heftig, um die verräterische Nässe zu vertreiben, und richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf, mit der er Herrn Tick ungefähr bis zum Schienbein reichte.

»Ich meine das ernst. Ein Weihnachtsfest ist doch etwas Schönes! Stellt euch doch mal den geschmückten Tannenbaum vor, die Girlanden und Kerzen. Wir könnten uns gegenseitig Geschenke machen, leckere Plätzchen backen und am Kamin heiße Schokolade trinken.« Fips spürte, wie ihm allein bei der Vorstellung warm ums Herz wurde. Ja, er sehnte sich wirklich nach einem schönen, gemütlichen Weihnachtsfest.

Wieder wurde er von dem schallenden Gelächter der anderen fast überrollt. »Wir feiern kein Weihnachten! Wir sind Monster«, grölten, heulten und kreischten die anderen im Chor.

»Da würden wir ja eher das ganze Jahr lang Halloween feiern!«, rief eines der Skelett-Eichhörnchen und der Rest stimmte johlend ein. »Au ja, lasst uns das Haus in ein Gruselschloss verwandeln – für immer!«

Fips senkte den Kopf und schlich stumm aus dem Raum. Er war ziemlich sicher, dass von den anderen niemand seinen leisen Rückzug bemerkte. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, zu diskutieren, was die furchterregend aussehendsten Speisen und Getränke waren und ob sie die Banshees wohl zu Weihnachten günstiger für die musikalische Untermalung bekommen würden.

Es war wirklich hoffnungslos! Da hatte er endlich den Beweis gefunden, den er vorher gebraucht hatte … und nun lachten sie ihm trotzdem ins Gesicht.

In Momenten wie diesem fragte Fips sich wirklich, warum er nicht einfach auszog.  Auch wenn er die Antwort längst kannte: Er konnte es einfach nicht. Trotz allem war das sein Zuhause. Und die Skelett-Eichhörnchen und Zombie-Meerschweinchen waren seine Familie – mit allen grauenvoll-gruseligen Macken.

Und genau aus dem Grund wollte er ihnen ein schönes Weihnachtsfest bereiten. Fips war überzeugt, dass sie es auch zu schätzen wissen würden – wenn es denn einmal da war. Niemand konnte sich dem Zauber von Weihnachten entziehen – auch ein ganzes Haus voller Monster nicht.

Allerdings musste er dazu Weihnachten zu den Monstern bringen. Und das war das Problem. Wie sollte er allein die Vorbereitungen für ein stimmungsvolles Weihnachtsfest treffen, während die anderen sich auf eine ewige Halloween-Feier einstellten?

Nein, er brauchte dringend Unterstützung. Fips wusste nur noch nicht, wo er sie finden sollte. Da sie ganz sicher nicht von seiner ›Familie‹ kommen würde, wärmte er sich nur kurz in der Küche auf und sprang dann wieder nach draußen.

***

Mehrere Tage lang lief das kleine Eichhörnchen suchend durch die Gegend. Es traute sich nicht, die Menschen um Hilfe zu bitten. Die würden es sicherlich nicht verstehen – von der Sprachbarriere einmal ganz abgesehen. Und irgendwie spürte Fips, dass auch die Tiere, die er beim Schmücken ihres Weihnachtsbaums beobachtet hatte, seine Situation nicht wirklich verstehen würden. Nicht umsonst eilte seinen Mitbewohnern in gewisser Ruf voraus, der nicht gerade nach Zimtsternen und Vanillekipferln roch. Stinkbomben und Patschuli trafen es wahrscheinlich eher.

Also brauchte Fips eine unbeteiligte Partei. Jemanden, der seine etwas andere Familie nicht kannte, aber etwas für den Zauber von Weihnachten übrighatte. Wer er nur wüsste, wo es zum Weihnachtsland ging! Dort gäbe es schließlich die Profis. Und auch wenn sie vielleicht nicht vorhatten, das Monsterhaus in ein Winterwunderland zu verwandeln, so könnten ihm die Weihnachtselfen oder auch die Rentiere des Weihnachtsmanns sicherlich ein paar Tipps geben. Wenngleich eine helfende Hand definitiv nicht zu verachten wäre …

***

Als das kleine Eichhörnchen schon eine ganze Woche lang gesucht hatte, war es den Tränen nahe – und der Erschöpfung sowieso. Es schlief kaum noch, nahm nur das Nötigste an Nahrung zu sich, da es immer verbissener nach einer Lösung suchte. Ohne einen einzigen Anhaltspunkt zu finden.

Kein Weihnachtsland, keine Unterstützung, nichts. Alle Tiere, die Fips nach dem Weihnachtsland fragte, schauten ihn zweifelnd an oder lachten ihn tatsächlich aus. Und wenn er mit seinem eigenen Anliegen herausrückte, sah er entweder Mitleid in ihren Augen, oder dass sie dachten, er wäre einmal zu oft mit dem Kopf zuerst vom Baum gefallen und dabei sehr heftig auf einem Stein gelandet.

Fips sank endlich auf einer Waldlichtung zu Boden. Er konnte einfach nicht mehr. Das einzige, was ihn nicht vor Hunger und Müdigkeit ohnmächtig werden ließ, war seine schiere Willenskraft. Das kleine Eichhörnchen pflückte ein vereistes Kleeblatt, das genau vor seiner Nase wuchs und betrachtete es mit glasigen Augen. Wenn es doch bloß vier Blätter hätte, wenn es einen einzigen Wunsch zur Verfügung hätte …

»Dann – was?«, sprach eine leicht schnatternde Stimme in seine Gedanken.

Fips blinzelte, war nicht mehr sicher, was wirklich war und was nicht. Vielleicht war er längst bewusstlos geworden und lag leblos und in seinen letzten Atemzügen auf der Wiese. Und dies waren seine letzten Gedanken.

»Ernsthaft? Nun sei doch mal nicht gleich über-dramatisch«, schnatterte es wieder neben ihm.

Nun riss das kleine Eichhörnchen wirklich die Augen auf und schaute von dem Kleeblatt in seiner Pfote auf. Vor ihm stand eine Gans. Das erklärte zumindest den schnatternden Tonfall.

»Ich bin nicht tot, oder?«, fragte Fips.

»Nein, du bist nicht tot«, bestätigte ihm die Gans seine Gedanken. Sie klang leicht genervt, aber nicht unfreundlich. »Aber du kannst mir erklären, was du auf meiner Wiese machst und wieso du einfach meinen Klee ausrupfst, ohne ihn zu essen.« Damit nahm sie ihm das Kleeblatt vorsichtig, aber bestimmt mit dem Schnabel aus der Pfote und verspeiste es.

Fips war immer noch zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Erst als die Gans ihn ungehalten anblickte und leise zu zischen begann, riss er sich zusammen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»I-Ich suche Hilfe«, stotterte er.

»Das ist mir auch klar«, entgegnete die Gans spitz.

»Ja, aber so meine ich das nicht. Ich …« Das kleine Eichhörnchen holte einmal tief Luft, um durchzuatmen, und erzählte der Gans dann alles, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Als Fips fertig war, schwieg er erschöpft.

Die Gans musterte ihn einen Moment stumm und schüttelte dann leicht den Kopf. »Ich bekomme auch immer diese ganzen hilflosen Fälle ab. Nicht auszuhalten.«

»Kannst du mir helfen?«, fragte er vorsichtig und ohne sich große Hoffnungen zu machen.

Die Gans rupfte sich ein weiteres Kleeblatt ab, schluckte es herunter und betrachtete das kleine Eichhörnchen erneut von oben bis unten. »Okay«, sagte sie schließlich beiläufig und fraß diesmal ein paar Grashalme.

Fips glaubte einen Moment, er hätte sich verhört. »W-Wirklich?«

»Ja, w-wirklich.« Die Gans rupfte sich diesmal ein ganzes Büschel Kleeblätter ab, verspeiste diese und schlug dann leicht mit den Flügeln. »Steig auf. Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

»A-Aufsteigen? A-auf deinen Rücken?« Fips wich einen Schritt zurück.

»Natürlich. Wie willst du sonst ins Weihnachtsland kommen? Und erzähl mir jetzt bloß nicht, du bist das erste Eichhörnchen mit Höhenangst!«

»N-Nein, keine Höhenangst. Aber ich bin doch noch nie geflogen!«

Es klang, als würde die Gans seufzen. »Du fliegst ja auch nicht, du hast schließlich keine Flügel. Ich fliege, du bist Passagier. Du musst dich einfach nur festhalten. Das kannst du doch, oder?«

Zögernd trat Fips wieder nach vorn, hielt noch einen Moment inne, um seinen Mut zu sammeln, und griff dann vorsichtig nach den Federn der Gans.

»Nicht so schüchtern, los, los!«

Mit einem beherzten Satz sprang das kleine Eichhörnchen auf den Rücken der Gans und schlang seine Pfoten um ihren Hals. Dann kniff Fips ganz fest die Augen zu. Wenn er schon fliegen musste, wollte er ganz sicher nichts davon mitbekommen!

***

Der Wind pfiff um Fips’ Ohren und er hätte die Augen nicht einmal öffnen können, wenn er es gewollt hätte. Dazu war es außerdem viel zu kalt. Dem kleinen Eichhörnchen klapperten die Zähne und schon bald hatte Fips das Gefühl, als müssten seine Pfoten längst an den Federn der Gans festgefroren sein. Er hoffte einfach nur, dass die Reise nicht mehr lange dauerte. Sonst würde man ihn wohl als Eisskulptur vom Rücken der Gans trennen müssen.

Fips wollte seinen Augen kaum trauen, als er endlich wieder sehen konnte: Unter ihnen befand sich das Weihnachtsland! Anders konnte es gar nicht sein. Alle Tannen glitzerten, als wären sie mit Lichterketten und goldenen Sternen geschmückt. Dort stand ein Haus, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Ob dort der Weihnachtsmann wohnte? Rentiere standen neben dem Gebäude und kauten an einem Ballen Heu. Und über allem lag ganz eindeutig der Duft nach Weihnachten. Das kleine Eichhörnchen atmete tief ein und zum ersten Mal seit Tagen stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Es hatte es wirklich geschafft!

»Wir haben es geschafft«, korrigierte ihn sogleich die Gans. »Besser gesagt: Ich habe es geschafft. Denn du hast schließlich nur wie ein Häufchen Elend auf meinem Rücken gehangen und vor lauter Angst an meinen Federn gerissen.«

»Entschuldige.« Fips lockerte sogleich seinen Griff.

»Schon okay. Du bist nicht mein erster Passagier, der einfach nicht für solche Höhen geschaffen ist. Jetzt halt dich noch mal gut fest, wir gehen in den Landeanflug.«

Fips klammerte sich erneut an sie, aber diesmal so, dass er nicht fürchten musste, der Gans ein paar Federn auszureißen. Und sicherheitshalber schloss er noch einmal die Augen.

Mit wackligen Beinen glitt das kleine Eichhörnchen schließlich vom Rücken der Gans.

»Fliegen ist wirklich … etwas anderes«, sagte Fips schließlich.

Die Gans schnatterte belustigt. »Natürlich ist es das. Warte nur ab, bis wir uns auf den Rückweg machen – dann wirst du es ganz sicher schon längst genießen.«

Davon war Fips eher weniger überzeugt. Er konzentrierte sich lieber auf den Moment, anstatt daran zu denken, dass er irgendwie auch wieder nach Hause kommen musste.

»Wie geht es jetzt eigentlich weiter?«, fragte er schließlich. »Kennst du dich hier im Weihnachtsland aus? Weißt du, mit wem wir sprechen müssen?«

Die Gans schaute ihn an, als wäre er mit dem Kopf zuerst auf dem Boden gelandet und nicht mit den Pfoten. »Na, du bist doch derjenige, der dringend den Weg ins Weihnachtsland gesucht hat, damit du Weihnachten zu deiner ›Familie‹ bringen kannst. Ich dachte, du hast einen Plan.«

Fips spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Unruhig tappte er von einem Fuß auf den anderen. »Jaaa … nein. Ich habe nie wirklich geglaubt, dass ich den Weg ins Weihnachtsland finden würde – war irgendwann nicht einmal mehr sicher, ob es das Weihnachtsland tatsächlich gibt. Eigentlich hatte ich nur gehofft, dass ich irgendwo im Umkreis von meinem Zuhause jemanden finden würde, der mir hilft, ein bisschen Weihnachtsdekoration zu besorgen, das Haus zu schmücken und so alle in Weihnachtsstimmung zu bringen.«

Die Gans schlackerte mit dem Kopf und riss laut schnatternd den Schnabel auf. Fips nahm an, dass das ihre Version eines schallenden Gelächters war.

Er sah zu Boden, bis sie fertig war. Dann schaute er wieder zu ihr hoch. »Mag sein, dass das naiv war.« Er zuckte mit den Schultern. »Mag sein, dass ich gleichzeitig zu wenig und zu viel erwartet habe. Ich weiß es nicht. Aber nun bin ich schon mal hier – und da du den Weg kanntest, dachte ich mir, dass du mir auch hier noch etwas weiterhelfen kannst.« Fips mache ganz große Augen und blickte die Gans bittend an.

Die legte den Kopf schief. »Okay, okay. Auch wenn ich sicher bin, dass ich meine ganze Hilfsbereitschaft eines Tages ganz grauenvoll bereuen werde.« Sie schlug mit den Flügeln. »Mir nach!«

***

Schnell hüpfte Fips ihr hinterher, als sie das Haus des Weihnachtsmanns ansteuerte, jedoch nicht an die Tür klopfte, sondern zum Heuballen mit den Rentieren abschwenkte. Die Rentiere beäugten sie skeptisch, als sie sich vor ihnen aufrichtete und nun ihrerseits die Geschichte des kleinen Eichhörnchens berichtete.

Hier und da schmückte sie ihre Rolle etwas aus und hob zugleich Fips’ Unbedarftheit und Ängstlichkeit und generelle Planlosigkeit hervor. Der saß stumm daneben. Er wusste auch nicht, wieso, aber aus irgendeinem Grund vertraute er der Gans, dass sie in seinem besten Interesse handelte.

Als die Rentiere ihrerseits prusteten, nachdem die Gans endlich den Schnabel zugeklappt hatte, war Fips nicht mehr ganz so überzeugt. Als sie ihm im nächsten Atemzug allerdings ihre Hilfe anboten, strahlte er übers ganze Gesicht und nahm die Unterstützung nur zu gerne an.

Zusammen klopften sie beim Weihnachtsmann an die Tür, der die Augen weit aufriss, als er die kleine Prozession von Tieren vor sich sah. »Nanu, was bringt euch alle denn zu mir?«

Diesmal überließ Fips nicht wieder der Gans das Reden und auch nicht den Rentieren. Er wollte selbst für sich einstehen, immerhin war er auch derjenige, der die Hilfe des Weihnachtsmannes brauchte.

Im Unterschied zu der Gans und auch den Rentieren lachte der Weihnachtsmann nicht, als Fips ihm seine Bitte vorgetragen hatte. Stattdessen fuhr er sich durch den dichten weißen Bart und schaute dann nachdenklich in die Ferne.

In diesen stillen Sekunden bemerkte Fips, dass der Weihnachtsmann gar nicht so gut aussah. Was er zuerst für fröhliche Apfelbäckchen gehalten hatte, wirkte nun fiebrig. Ein dünner Schweißfilm überzog die Stirn des Weihnachtsmannes, seine Nase war gerötet und wenn das kleine Eichhörnchen sich nicht irrte, hatte er gerade ein Husten mit einem Räuspern kaschiert. Ob der Weihnachtsmann etwa krank war? Ging das überhaupt? Fips traute sich nicht, zu fragen.

Schließlich schaute der Weihnachtsmann ihn an, sein Blick wirkte glasig. Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen. Hier laufen gerade die letzten Vorbereitungen, da kann ich niemanden entbehren. Und ich selbst kann natürlich nicht einfach durch die Weltgeschichte fliegen und irgendwelchen Monstern ein Weihnachtsfest bescheren.«

Fips senkte den Kopf. Als er mit der Gans hergeflogen war, hatte er sein Glück kaum glauben können, als sie gelandet waren, hatte er sich am Ziel gewähnt. Auch die Rentiere hatten ihn schlussendlich darin bestärkt. Und nun sagte der Weihnachtsmann einfach Nein? Das kleine Eichhörnchen wusste nicht einmal mehr, was es sagen sollte.

Dafür erhoben nun die Gans und auch die Rentiere ihre Stimmen – und sprachen sich für Fips aus. Doch der Weihnachtsmann räusperte sich nur noch einmal hustend in sein Taschentuch, entschuldigte sich mit dringenden Besprechungen und schloss nach einer knappen Verabschiedung die Tür.

***

Fips wusste nicht mehr weiter. Er lauschte stumm, während die anderen Tiere hitzig diskutierten. Vielleicht sollte es doch nicht sein. Vielleicht war es wirklich eine dumme Idee gewesen. Vielleicht hätte er einfach zu Hause bleiben und sich in sein unweihnachtliches Schicksal fügen sollen.

Und doch … Das Gespräch zwischen den Rentieren und der Gans bestärkte ihn zumindest in dem Eindruck, dass vielleicht wirklich etwas mit dem Weihnachtsmann nicht stimmte. Dass er tatsächlich krank war, das aber geheim halten wollte – um Weihnachten nicht zu gefährden.

»Sagt mal«, fragte Fips in die Runde, »hattet ihr auch den Eindruck, dass es dem Weihnachtsmann nicht so gut geht? Dass er vielleicht sogar … krank sein könnte?«

Die Gans und die Rentiere wirbelten zu ihm herum. »Krank? Der Weihnachtsmann? Das kann nicht sein!«, sagten sie wie aus einem Mund.

»Aber habt ihr nicht das Husten gehört? Das leise Krächzen in seiner Stimme? Habt ihr nicht gesehen, dass er ganz fiebrig aussah?«

Jetzt wirkten die anderen Tiere etwas nachdenklich. Und schließlich wiegte die Gans ihren Kopf leicht von einer Seite zur anderen. »Du könntest tatsächlich recht haben. Und das würde auch erklären, wieso er uns so schnell abgewimmelt hat. Das ist eigentlich gar nicht seine Art. Normalerweise mag er Besuch – auch in stressigen Zeiten. Und ein paar Plätzchen hat er für müde Reisende für gewöhnlich auch immer.«

Dem stimmten nun auch die Rentiere zu.

»Einmal ist immer das erste Mal«, wandte die Gans ein. »Ob das nun ein Eichhörnchen ist, das den Zauber der Weihnacht in ein Monster-Haus bringen will, oder ein Weihnachtsmann mit Grippe.«

»Wir sollten auf jeden Fall seine rechte Hand, den obersten Weihnachtselfen, verständigen«, befanden die Rentiere einstimmig und sausten mit schneestiebenden Hufen davon, bevor die Gans oder das kleine Eichhörnchen noch etwas einwenden konnten. Also ließen sich die beiden auf eine Schneewehe sinken und warteten.

***

Nach kurzer Zeit kehrten die Rentiere zurück, einen Weihnachtselfen im Schlepptau. Der stellte sich als Theo vor und kam dann gleich zur Sache. Für den Moment riet er dem kleinen Eichhörnchen und der Gans, es sich in der Lebkuchenbäckerei gemütlich zu machen. Dort würden sie eine Tasse heiße Schokolade bekommen, ein paar Lebkuchen, natürlich, und könnten sich ausruhen. Er würde sie später dort abholen, wenn er wüsste, wie es dem Weihnachtsmann ging. Damit verschwand er im Inneren des Hauses.

An jedem anderen Tag hätte Fips vor Freude gar nicht mehr an sich halten können, hätte ihm jemand gesagt, er würde in der Lebkuchenbäckerei im Weihnachtsland sitzen und dort Kakao schlürfen und Plätzchen und Lebkuchen naschen, ganz zu schweigen von den köstlichen Nüssen, die es ebenfalls gab. Heute wusste er das nur halb zu schätzen. Dafür waren seine Gedanken zu sehr bei seinem Vorhaben, das auf einmal erst so aussichtsreich und dann so aussichtslos gewirkt hatte – und immer noch eher düster aussah.

Das änderte sich auch nur bedingt, als Theo schließlich auftauchte. Der Weihnachtself wirkte bedrückt, niedergeschlagen und auch ziemlich gestresst.

»Du hattest tatsächlich recht mit deiner Vermutung«, sagte er, sobald er neben den Sesseln stand, auf denen die Gans und das kleine Eichhörnchen Platz genommen hatten. »Nicht auszudenken, wenn der Weihnachtsmann seine Erkrankung noch länger geheim gehalten hätte. So können wir ihm immerhin Bettruhe verordnen und versuchen, ihn bis Weihnachten wieder aufzupäppeln.« Er seufzte. »Und nach einem Plan B sollten wir wohl auch schon mal Ausschau halten, nur zur Sicherheit, natürlich.« Theo lachte nervös. »Doch das hat alles natürlich nichts mit euch zu tun.« Er räusperte sich und blickte Fips direkt an. »Wir wollen dir helfen, schließlich ist der Zauber von Weihnachten etwas, das uns allen hier sehr am Herzen liegt. Deinem ganzen Wunsch können wir allerdings nicht entsprechen – wie du weißt, hat der Weihnachtsmann viel zu tun und muss sich jetzt auch noch auskurieren.«

Fips nickte eilig, traute sich aber nicht, den Redefluss des Elfen zu unterbrechen.

»Wir können dir aber einen Weihnachtsbaum mitgeben, ein paar Geschenke, die vielleicht sogar deinen Monster-Freunden gefallen«, er zwinkerte dem kleinen Eichhörnchen zu, »und natürlich auch eine ganze Ladung an Plätzchen, Lebkuchen und allen Leckereien, die du haben möchtest.«

Ganz von selbst verzog sich Fips’ Mund zu einem breiten Grinsen. Am liebsten wäre er dem Weihnachtselfen um den Hals gefallen, aber der sah nicht so aus, als fände er spontane Umarmungen gut. Also hielt er sich zurück. »Danke«, sagte er strahlend.

Theo lächelte ihn an und reichte ihm ein kleines goldenes Säckchen. »Das hier soll ich dir auch noch mitgeben. Pass ja gut darauf auf. Und setze den Sternenstaub nicht zu überschwänglich ein.«

Mit großen Augen nahm Fips das Säckchen in Empfang. »Wa-Wie …?«

Der Weihnachtself grinste. »Der Sternenstaub hilft an Weihnachten da etwas nach, wo die Weihnachtsstimmung noch nicht ganz da ist. Wo es den Menschen zum Beispiel schwer fällt, zumindest über die Festtage freundlich zueinander zu sein. Man könnte sagen, dass wir beim Zauber von Weihnachten manchmal ein kleines bisschen nachhelfen … aber das bleibt natürlich unser Geheimnis.«

Fips nickte eilig. Und nach einem scharfen Blick von Theo schloss sich ihm auch die Gans an.

***

Auf dem Rücken eines Rentiers traten das kleine Eichhörnchen und die Gans kurz darauf den Heimweg an. Der Weihnachtself blies eine Prise Sternenstaub über die Reisenden und ehe Fips sich versah, waren sie schon auf der Lichtung, auf der er die Gans getroffen hatte. Und da diese nun neugierig war auf dieses Weihnachtswunder, das er plante, standen sie kurze Zeit später vor seinem Heim.

Das Rentier half ihnen noch, alles durch den Hintereingang in die Küche zu bringen, dann verabschiedete es sich. Nun war es an Fips und der Gans – und dem Sternenstaub – den Zauber der Weihnacht über die Skelett-Eichhörnchen und Zombie-Meerschweinchen zu bringen. Am besten, ohne dass diese etwas davon mitbekamen, denn Fips war nicht sicher, wie sie auf seine Umdekorierungspläne reagieren würden – bevor er fertig war.

Zum Glück wirkte das Haus still. Wahrscheinlich waren die anderen nach einer weiteren Nacht voll Schädel-Polo oder ähnlichen gruseligen Spielen noch längst nicht wieder aufgewacht.

Vorsichtig trug Fips winzige Mengen des Sternenstaubs auf alles auf, was sie aus dem Weihnachtsland mitgebracht hatten – ganz wie es der Weihnachtself ihm erklärt hatte. Wie durch Zauberhand glitten die Girlanden durch die Luft und wickelten sich um Treppengeländer und Säulen. Die Lichterketten folgten ihnen und tauchten das ganze Haus in einen warmen Schimmer. Der Weihnachtsbaum dekorierte sich wie von selbst mit Nüssen, Äpfeln, Orangen und Lebkuchen, oben auf die Spitze setzte sich ein goldener Stern. Weitere Sterne hängten sich in die Fenster. Die Geschenke schwebten lautlos durch die Räume und platzierten sich im Kaminzimmer unter dem Weihnachtsbaum.

***

Nun musste Fips warten. Es kam ihm vor, als hätte seine ›Familie‹ noch nie so lange geschlafen. Als die Skelett-Eichhörnchen und Zombie-Meerschweinchen endlich die Treppe herunterkamen und das weihnachtlich geschmückte Kaminzimmer betraten, hielt das kleine Eichhörnchen den Atem an – hoffte und fürchtete zugleich.

Als Fips das Lächeln auf den Gesichtern der anderen erblickte, hüpfte er fröhlich auf und ab und weckte die Gans, die den Kopf unter die Flügel gesteckt hatte. »Schau mal«, wisperte er. »Ich glaube, es hat funktioniert.«

Und wirklich waren die Monster so zahm wie noch nie. Diesmal hörten sie sich die ganze Geschichte an, die Fips ihnen zu erzählen hatte – ohne ihn zu unterbrechen oder sich über ihn lustig zu machen.

Sie rechneten Fips die Mühe hoch an, die er sich gegeben hatte, und wirkten irgendwie fast gerührt darüber, mit wie viel Einsatz er sich abgemüht hatte, ihnen ein Weihnachtsfest zu geben, das sie gar nicht gewollt hatten. Einfach, weil er sie mochte. Weil sie seine Familie waren.

So saßen schließlich am Weihnachtsabend tatsächlich die Skelett-Eichhörnchen und die Zombie-Meerschweinchen mit Fips unterm Weihnachtsbaum, öffneten Geschenke und waren einfach glücklich, dass sie einander hatten. Ob untot oder lebendig, spielte an diesem Tag keine Rolle. Die Gans hatten sie auch zur Feier eingeladen und lachten schallend über ihre Witze.

Als sie vor dem Schlafengehen noch ein letztes Lied sangen und sich gegenseitig frohe Weihnachten wünschten, war Fips rundum glücklich. An Weihnachten wurden Träume manchmal wirklich wahr.

Umrisszeichnung eines aufgeschlagenen Buchs, aus dem Sterne und Blasen aufsteigen.,

Diese Kurzgeschichte ist ein Spin-off zu meinem Roman »Träume voller Schatten«, in dem als Nebenfiguren auch so einige Eichhörnchen und Meerschweinchen in lebendig und untot herumwuseln ebenso wie eine hilfreiche Gans mit einem etwas eigenen Humor.

Für diejenigen, die das Buch noch nicht kennen, gibt es z.B. hier weitere Infos:
– Beitrag zum Coverreveal
– Beitrag zur Veröffentlichung

Außerdem ist dieser Text Teil des Autoren-Adventskalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem*r anderen Autor*in rund um die Themen Winter, Advent und Weihnachten. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten der Vorjahre stöbern.