Ein Weihnachtsbaum für Isabel

Leise knirschte der Schnee unter Yukis Füßen, als sie die Treppen von der Bahnhaltestelle hinunterlief und dann über den großen Parkplatz. Abgesehen davon war es recht still, überraschend still – zumindest für Kölner Verhältnisse. Wahrscheinlich lagen viele Menschen noch in ihren warmen, gemütlichen Betten. Yuki gähnte verstohlen.

»Glaub mir, ich hätte auch viel lieber weitergeschlummert«, beschwerte sich Sasuke hinter ihr. »Aber nein, du musst ja dringend an einem frühen Samstagmorgen einen Weihnachtsbaum besorgen. Wieso auch immer ich deswegen meinen Schlaf unterbrechen musste.«

»Na, damit du mir beim Aussuchen helfen kannst.« Yuki sah sich zu dem Kater um und unterdrückte mühsam ein Grinsen. Sasuke schaffte es wieder einmal, ganz besonders kläglich auszusehen – als wäre er die ärmste und unglücklichste Fellnase der Welt. Die Masche kannte Yuki allerdings schon zu Genüge. »Außerdem war es schließlich deine Idee«, fügte sie hinzu.

»Der Weihnachtsbaum, ja«, räumte Sasuke ein. »Aber definitiv nicht die Uhrzeit.«

»Ich wollte eben vermeiden, dass es so voll ist. Wirklich wach bin ich auch nicht.«

Der Kater schnaubte, erwiderte jedoch nichts mehr.

Schweigend stapften sie weiter. Liefen, nachdem sie den Parkplatz überquert hatten, einen verschneiten Grünstreifen entlang, der sie zur Fußgängerampel führte.

»Meine Pfoten werden kalt«, motzte Sasuke, als sie darauf warteten, dass es grün wurde und sie auf die andere Seite der Straße gehen konnten. »Beim nächsten Mal hätte ich gerne Stiefel.«

Yuki schmunzelte. »Wie der gestiefelte Kater?«

»Von mir aus«, erwiderte Sasuke. »Aber ich laufe ganz sicher nicht auf zwei Beinen!«

Yuki lachte. »Dann sollten wir wohl zu Hause mal schauen, wo es Stiefelchen in Flauschtigergröße gibt.«

»Wieso soll ich dir eigentlich beim Aussuchen helfen?«, fragte Sasuke, als die Ampel umsprang und sie sich erneut in Bewegung setzten.

»Wir hatten früher nie einen Weihnachtsbaum«, erklärte Yuki. »Du kanntest ja meinen Vater. Also habe ich keine Ahnung, worauf man bei der Auswahl achten muss. Erst recht, wenn er noch länger als bis zum Fest überleben soll. Ich habe schließlich nicht gerade einen grünen Daumen.«

»Du hast einen Blumenladen!«

»Aber kein Gartencenter oder einen botanischen Garten«, konterte Yuki. »Bei mir gibt es Gestecke, Schnittblumen. Und auch das ja eher nebenher – schließlich konzentriere ich mich auf meine Designs. Was du eigentlich weißt …«

Sie bedachte Sasuke mit einem kritischen Blick. Der jedoch tat so, als würde er nichts davon bemerken. Antwortete auch nicht, sondern putzte sich. Erst die Pfoten, dann die Ohren und das Gesicht. Schließlich kratzte er sich noch am Rücken. Erst danach schloss er zu Yuki auf und trottete weiter neben ihr her.

Die fragte sich derweil im Stillen, ob es eigentlich einen Bringservice für Weihnachtsbäume gab. Oder ob sie die Tanne – oder was auch immer sie aussuchten – mit der Bahn zu Isabels Wohnung transportieren musste. Dazu hatte sie auf der Website des Gutshofs leider keine Informationen gefunden. Nur, dass man die Bäume auch mit Ballen bekam – damit sie im Topf weiterwachsen konnten oder man sie später in den Garten pflanzen konnte.

»Lass uns doch erst mal die Bäume anschauen und einen für Isabel auswählen«, warf Sasuke ein, der offenbar – einmal mehr – ihre Gedanken gelesen hatte. »Dann wird sich schon eine Lösung finden lassen.«

Yuki seufzte und nickte. Wahrscheinlich hatte der Kater recht.

»Natürlich habe ich recht«, bekräftigte der.

»Ja, ja, und ein Problem mit Bescheidenheit hast du auch nicht.«

»Sollte ich?«

Auch wenn Yuki wusste, dass Flauschtiger natürlich eigentlich nicht lachten, hätte sie in diesem Moment schwören können, dass Sasuke von einem Ohr bis zum anderen grinste. Kopfschüttelnd stapfte sie weiter neben ihm durch den Schnee.

Als sie an dem Gut ankamen und auf den festlich geschmückten Hof traten, spürte Yuki, wie Vorfreude in ihr aufstieg. Vorfreude auf das gemeinsame Weihnachtsfest mit Isabel. Vorfreude auf den Gesichtsausdruck ihrer Freundin, wenn sie den Weihnachtsbaum in ihrer Wohnung entdeckte.

Doch bevor sie sich auf die Suche nach der perfekten Tanne, Kiefer oder Fichte machte, wärmte sie sich mit Sasuke an einem der Heizpilze auf, die zwischen einigen weihnachtlich dekorierten Ständen aufgestellt waren. Ein kleiner Weihnachtsmarkt war auf dem Platz aufgebaut – mit Holzbuden, an denen man Glühwein, Crêpes sowie selbstgemachte Marmeladen und andere kulinarische Kleinigkeiten erstehen konnte.

Es dauerte einige Minuten, bis Yuki sich wirklich von der Wärme durchdrungen fühlte. Bis sie nicht mehr den Eindruck hatte, dass ihre Nase sich in einen Eiszapfen verwandeln wollte. Und selbst dann löste sie sich nur ungern von dem Heizpilz. Während sie zu einem Stand trat, an dem bereits gefällte zukünftige Weihnachtsbäume verkauft wurden, blieb Sasuke, wo er war – ganz dicht an der Wärme des Heizpilzes.

»Entschuldigung«, sagte sie zögernd zu der Frau, die gerade einige der Bäume einnetzte. »Ich suche einen Weihnachtsbaum – aber einen mit Ballen.«

»Da können Sie sich gerne in unserem Tannenbaumwald umschauen«, erwiderte die Verkäuferin freundlich und wies mit ausgestrecktem Arm nach links.

Yuki schaute in die angedeutete Richtung und entdeckte ein Schild, auf dem passenderweise ›Tannenbaumwald‹ stand. »Danke – das hätte ich eigentlich selbst finden sollen.« Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden.

»Ach, manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.« Die Frau lachte.

Yuki rang sich ein Lächeln ab. »Suche ich mir dann einen Baum aus und komme wieder her, damit wir alles Weitere klären können?«, fragte sie.

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Darum kümmern sich meine Kollegen direkt im Tannenbaumwald. Ich bin nur für die Bäume zuständig, die schon hier stehen. Arbeitsteilung, Sie verstehen?«

Yuki nickte, verabschiedete sich und wandte sich nach links. Als sie den Pfeilen folgte, die sie schließlich zu einem großen Feld voller zukünftiger Weihnachtsbäume führten, schloss sich ihr Sasuke wieder an.

Zusammen liefen sie die Reihen der Bäume ab, Yuki las dabei die Schilder, die es zu den einzelnen Baumgruppen gab. Offenbar gingen sie an Colorado-Tannen vorbei, an Rot-Fichten und serbischen Fichten. An Bäumen, die Grandis und Nobilis genannt wurden. An kleinen und gigantischen Exemplaren.

Schnell schwirrte Yuki der Kopf. Denn natürlich sah sie die Unterschiede, an den Nadeln, dem Wuchs, dem Stamm und erst recht der Färbung. Aber was davon war nun ein Baum, der Isabel gefallen würde?

»Wie wäre es, wenn du nach deinem Bauchgefühl gehst?«, fragte Sasuke schließlich in ihre Gedanken. »Du kennst Isabel doch inzwischen schon eine ganze Weile …«

Yuki dachte nach. Isabel würde nichts wollen, was zu groß war. Denn ihre Wohnung war zwar recht geräumig, aber nun auch nicht riesig. Und sie wollte sich in den Zimmern sicherlich noch bewegen können. Einen deckenhohen Baum fände sie außerdem sicherlich übertrieben.

»Aber zu klein sollte er auch nicht sein«, überlegte sie laut. »Sonst kann man ihn schließlich gar nicht richtig dekorieren – und Isabel liebt Weihnachtsschmuck.«

»Also eine mittlere Größe«, folgerte Sasuke. »Wo in der Wohnung willst du den Baum hinstellen?«

»Na ja, auf jeden Fall nicht ins Bad und nicht in die Küche. Das wäre etwas sonderbar – außerdem ist da ohnehin kein Platz. Bleiben also noch Wohn- und Schlafzimmer.«

Gedankenverloren lief Yuki weiter die Reihen entlang. Dabei entdeckte sie einen der Mitarbeiter, von denen die Verkäuferin im Innenhof gesprochen hatte. Sie näherte sich ihm, grüßte und fragte: »Können Sie mir sagen, ob sie auch Bäume haben, die eher schmal gewachsen sind, also nicht so ausladende Äste haben?«

»Nicht so ausladende Äste?« Der Mann strich sich übers Kinn. »Darauf züchten wir die Bäume eigentlich nicht gerade.«

»Aber es wäre für kleinere Wohnungen durchaus praktisch«, wandte Yuki ein.

»Da haben Sie wahrscheinlich recht. Allerdings kaufen Menschen mit kleinen Wohnungen für gewöhnlich einfach kleinere Bäume – die nehmen dann in alle Richtungen weniger Platz ein.«

»Bieten aber auch deutlich weniger Möglichkeiten zum Schmücken.« Yuki blickte zu den Bäumen in ihrer Umgebung und dann wieder den Mann an. »Also haben Sie nicht, was ich suche?«

Er wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich gerade zwischen den besonders großen Bäumen irgendwo einer mit einem eher zierlichen Wuchs verbirgt – wo genau, das kann ich Ihnen allerdings nicht sagen.«

Yuki verabschiedete sich – und machte sich auf die Suche. Auch jetzt hatte sie zwar nur kleine Anhaltspunkte, aber besser als nichts. Zusammen mit Sasuke streifte sie erneut durch die Reihen, hielt diesmal besonders nach den größten Bäumen Ausschau und spähte in die schmalen Zwischenräume, in denen der für sie perfekte Baum versteckt sein könnte. Jedoch – Fehlanzeige.

Bedrückt lief Yuki auf ihrem Rückweg zum Eingang an der äußeren Umzäunung entlang und schaute auf die angrenzenden schneebedeckten Felder. Dabei blieb ihr Blick an einem grünen Tupfen hängen: Ein Feld weiter, kurz vor dem Beginn der Golfanlage, stand ein Tannenbaum. Nicht sonderlich groß, aber auch nicht klein, ein bisschen schief – und eher zierlich. Er wirkte fast, als hätte jemand den Zweigen in seinem unteren Bereich einen ziemlich unebenen Astschnitt verpasst. Möglicherweise ein Unfall mit einer elektrischen Heckenschere.

Für Yuki jedoch war er perfekt. »Der passt genau zwischen die beiden Regale am Fußende von Isabels Bett.«

»Du willst den Baum ins Schlafzimmer stellen?« Sasuke klang skeptisch.

Yuki nickte und lächelte. »Dann kann Isabel ihn jedes Mal sehen, wenn sie morgens die Augen aufschlägt – und sich dabei auf Weihnachten freuen.«

»Und wenn der Baum gar nicht zum Verkauf steht?«, wandte der Kater ein. »Immerhin befindet er sich nicht gerade hier im Tannenbaumwald.«

»Och, ich bin da zuversichtlich. Es ist schließlich bald Weihnachten.« Mit diesen Worten ließ Yuki Sasuke stehen und stapfte zurück zum Eingang. Sie hatte den perfekten Baum für Isabel gefunden – und sie würde dafür sorgen, dass ihre Freundin ihn auch bekam.

Umrisszeichnung eines aufgeschlagenen Buchs, aus dem Sterne und Blasen aufsteigen.,

Diese Kurzgeschichte ist ein kleiner Spin-Off, der nach den Ereignissen meines Romans »Der Kater unterm Korallenbaum, oder: Wünschen will gelernt sein« spielt. Entstanden ist sie als Teil einer digitalen Adventsaktion.