Phantastischer Montag

phantastischermontag

Die Aktion #phantastischermontag entstand beim Berliner Stammtisch des Phantastik-Autoren-Netzwerks. Dort beschlossen die Autor:innen Alexa Pukall, C.A. Raaven, Maike Stein und Carola Wolff, jeden Montag eine phantastische Kurzgeschichte zu veröffentlich – reihum und zu wechselnden Themen. Da nun einige Monate aber auch mehr als vier Montage haben – der Juni, zum Beispiel 🙂 – , luden sie sich Gastautor:innen für den jeweils fünften Montag ein. Ich darf diesmal mit dabei sein und mich – wie schon die vier in ihren Geschichten zu diesem Monat vor mir – zum Thema „Sommersonnenwende“ austoben.

Eine Fee auf Menschenbesuch

»Hier steht es ganz genau!« Niamh wedelte mit der Schriftrolle vor den Gesichtern ihrer Eltern herum, legte sie dann auf den Tisch und breitete sie aus. »Einst machten sich junge Feen, wenn sie ihr 100. Jahr erreichten, auf den Weg in die Welt der Menschen«, las sie vor.

»Was für ein Unfug!« Ihr Vater lehnte sich vor und schaute über ihre Schulter. Mit dem Finger fuhr er die verblichenen Zeilen entlang. »Aha!« Er stützte eine Hand neben der Schriftrolle auf und las einen Abschnitt am unteren Ende vor: »Diese Praxis wurde allerdings beigelegt, als sich die Beziehungen zwischen den Feen und Menschen verschlechterten. Als die Menschen nur noch versuchten, von den Feen zu profitieren, als allein ihre Gier nach immer mehr und mehr ihr Handeln lenkte und sie ihre gemeinsamen Wurzeln in der Natur vergaßen. Stattdessen schändeten die Menschen die Flora und Fauna. Nachdem der große Schleier fiel, hat niemand vom Volk der Feen je wieder einen Fuß in die Welt der Menschen gesetzt und diesen sind die Tore zu unserer Welt fortan verschlossen geblieben

»Aber das ist doch schon so lange her! Wann fiel der große Schleier? Vor 500 Jahren?« Niamh schaute ihre Eltern an.

Ihre Mutter nickte schließlich. »Das kommt ungefähr hin.«

»Seitdem sind doch unzählige Menschenalter vergangen! So viele Generationen wurden geboren und sind gestorben. Meint ihr nicht, die Menschen haben längst bereut, was damals geschehen ist?«

Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Die Menschen, an die ich mich erinnern kann, haben nur an sich selbst gedacht. Da müsste schon einiges passiert sein, damit die sich ändern.«

»Trotzdem könnten sie es inzwischen getan haben. Oder wisst ihr, was sich in den letzten 500 Jahren in der Welt der Menschen zugetragen hat?«

Ihre Eltern schüttelten gleichzeitig den Kopf.

»Niemand weiß das«, antwortete ihr Vater. »Aber ich stimme deiner Mutter zu: Warum sollten sich die Menschen ändern? Und wieso interessiert dich das alles überhaupt?«

»Es interessiert mich einfach«, brachte sie schließlich hervor.

Ihre Mutter hob eine Braue, ihr Vater verschränkte die Arme vor der Brust. »Es interessiert dich einfach?«, wiederholten sie einstimmig.

Niamh nickte. »Das Leben hier ist schön und gut und ich finde wichtig, was wir für die Balance aller Dinge tun. Aber können wir nicht mehr machen? Wäre es nicht besser, wir würden mit den Menschen zusammenarbeiten? Gemeinsam könnten wir sicherlich so viel mehr für das Wohl aller erreichen!«

Ihre Eltern schwiegen. Es schien, als hätten sie mit diesem Argument nicht gerechnet. Niamh grinste innerlich.

»Das mag sein«, räumte ihre Mutter schließlich ein. »Aber es wäre trotzdem viel zu gefährlich für dich.«

»Und deshalb verbieten wir es dir«, warf ihr Vater ein.

Im ersten Moment wollte Niamh trotzig mit dem Fuß aufstampfen, doch sie unterdrückte den Impuls. Sie seufzte. »Okay, wenn ihr das meint,« lenkte sie ein. Plante aber schon, wie sie dann eben heimlich in die Welt der Menschen gelangen konnte.

Ihre Eltern musterten sie skeptisch. Dennoch hakten sie nicht nach.

Niamh atmete leise auf. Vielleicht waren sie nur überrascht, dass sie nachgegeben hatte. Oft zogen sich derartige Diskussionen über mehrere Stunden und am Ende wussten sie manchmal nicht einmal mehr, was die Auseinandersetzung überhaupt gestartet hatte. Nicht diesmal.

Bevor sie sich doch noch verriet, zog Niamh sich in ihr Zimmer zurück – die Schriftrolle nahm sie mit.

***

In den nächsten Tagen vergrub sie sich in alle Schriften vor dem Fall des großen Schleiers, um mehr über die Welt der Menschen herauszufinden. Denn auch wenn sie es ihren Eltern gegenüber nie zugeben würde, so wusste Niamh durchaus, dass ihr Unterfangen nicht ohne Risiken war.

So viel konnte sich verändert haben. Und so viel könnte gleich geblieben sein. Im Guten wie im Schlechten.

Nachdem sie alle spärlichen Informationen, derer sie habhaft werden konnte, in sich aufgesogen hatte, wartete Niamh. Sie zählte die Tage bis zu Litha, dem Fest der Sommersonnenwende. Die Zeit, zu der die Trennung zwischen dem Reich der Feen und dem der Menschen weniger greifbar war, wenn der Schleier zwischen den zwei Welten durchlässiger wurde und ein Hinübertreten leichter möglich war. Zumindest war das damals so gewesen. Niamh hoffte einfach, dass diese Gesetzmäßigkeit auch trotz dem Fall des großen Schleiers noch galt.

***

Hibbelig wartete sie darauf, dass es am Tag der Sommersonnenwende endlich Abend wurde. Normalerweise hätte sie sich den anderen Feen bei den Feierlichkeiten angeschlossen. Diesmal jedoch schlich sie sich davon, als das Fest begann und alle anderen beschäftigt waren.

Sie hinterließ ihren Eltern eine Notiz, damit diese Bescheid wussten und sich hoffentlich nicht allzu sehr sorgten, sollten sie wider Erwarten heimkommen, bevor Niamh zurück war. Zwar bestand so das Risiko, dass ihre Eltern sich auf die Suche nach ihr machten, aber dann hätte sie immerhin einen Vorsprung.

Niamh sah sich ein letztes Mal nach ihrem Zuhause um, dann tauchte sie in das Dämmerlicht des Waldes ein. Sie folgte der nächsten Ley-Linie, wie sie es in der Schriftrolle gelesen hatte, bis sie einen Knotenpunkt erreichte: eine Burg, von der aus es ihr möglich sein sollte, an verschiedene Orte zu reisen – sowohl innerhalb der Feenwelt wie auch ins Reich der Menschen. Das ganze Gebäude schien vor dem Nachthimmel zu leuchten, nicht nur wurde die Umgebung durch eine Vielzahl von Ley-Linien, die hier zusammenliefen, erhellt, es war, als würde das Licht, das von ihnen ausging, die ganze Burg einrahmen. Fasziniert blieb Niamh in einigem Abstand stehen und nahm den Anblick in sich auf. Dann überquerte sie leichtfüßig die verbleibenden Meter und trat durch den Torbogen.

Innen verharrte sie irritiert. Sie stand in der Burg, die sie auch von außen gesehen hatte, so viel war sicher. Und doch war sie anders, als sie noch vor einem Moment gewirkt hatte. Von außen war es ein prächtiger, strahlender und eindrucksvoller Bau gewesen. Innen war er nurmehr ein Schatten seiner selbst. Eine Ruine, die ihre einstige Herrlichkeit zwar noch erahnen ließ, aber keineswegs mehr widerspiegelte. Niamh runzelte die Stirn und drehte sich einmal um sich selbst.

Die Steinwände hatten Risse, einige der Bohlen des Holzbodens waren lose, andere fehlten, und Niamh war ziemlich sicher: Wäre sie weniger leichtfüßig – und deutlich schwerer –, wäre sie längst eingebrochen und eine Etage tiefer gelandet. Möbel konnte sie auch keine mehr erkennen, nur erahnen, dass einige der halb verrotteten Bretter und Streben zu Tischen und Bänken gehört hatten, vielleicht auch zu Schränken oder Regalen. Nur einzelne Fäden und dünnste Stoffreste deuteten darauf hin, dass den großen Raum wohl auch mal Wandbehänge geziert hatten. Am Ende der Halle sah sie Reste einer gemauerten Feuerstelle.

Niamh lief neugierig durch weitere Teile der Burg, bis sie eine Treppe fand, die nach oben führte. Die fehlenden Stufen hier und da übersprang sie mit Leichtigkeit. An sich hätte sie nicht einmal die Treppe gebraucht, um die Zinnen zu erreichen, aber so fühlte sie sich ein kleines bisschen, als wäre sie ein Mensch. Die konnten schließlich nicht fliegen. Nicht ohne Hilfsmittel jedenfalls.

Als sie das oberste Stockwerk des Turms erreichte, trat Niamh auf die Brüstung hinaus und hüpfte leichtfüßig über die Zinnen. Von hier oben, halb innen und halb außen, wirkte die Burg noch … zwiegespaltener. Einerseits erstreckte sich von Niamhs Augen ein funkelndes Netz aus Ley-Linien, anhand deren Verlauf sie nur zu leicht den Knotenpunkt ausmachen konnte. Andererseits sah sie nun erst recht, wie verfallen das ganze Gemäuer war, wie viel zerstört war und wie wenig erhalten geblieben war. Niamh spürte, wie ein Anflug von Melancholie sich ihrer bemächtigen wollte, doch sie schüttelte das Gefühl ab.

Wenige Minuten später hatte sie den Knotenpunkt der Ley-Linien erreicht – und den höchsten Turm der Burg. Von seinem Dach aus schaute sie sich noch einmal um, spürte die Macht, die all die, seitdem hier zuletzt Menschen und Feen – oder überhaupt jemand – geweilt hatte, überdauert hatte. Sie atmete tief ein, dann trat sie vor und mitten in den Lichtstrudel des Knotenpunkts hinein.

Es fühlte sich an, als würde sie gleichzeitig emporgewirbelt und fallen, eine unsichtbare Kraft zerrte von oben und unten an ihr, ließ sie immer wieder hochsteigen und absacken. Und dabei drehte sie sich um sich selbst, als würde sie von einer Windhose mitgerissen. Niamh schrie, doch der Klang erreichte nicht einmal ihre eigenen Ohren. Ihr Schrei wurde ihr direkt aus der Kehle gerissen und weggeweht.

Erst einige panische Sekunden später erinnerte sie sich an einen Absatz, den sie zur Reise mit den Ley-Linien in der alten Schriftrolle gelesen hatte: Du musst zu jeder Zeit dein Ziel klar vor Augen haben. Sonst zerreißt dich der Strom der Welten.

Dumm nur, dass sie sich vor dem Loslaufen nicht hatte entscheiden können. Dass ihr mehrere Orte als sehr reizvoll erschienen waren. Stonehenge war natürlich ganz vorne auf ihrer Liste. Aber auch die Externsteine im Teutoburger Wald. Beides Steinformationen mit Knotenpunkten, die selbst unter Menschen als sogenannte Kraftorte galten – und wichtige Plätze mit großen Sonnenwendfeiern waren.

Niamh atmete tief durch. Stonehenge oder die Externsteine, Stonehenge oder die Externsteine? Vor ihrem inneren Auge wechselten sich die Illustrationen beider Stätten in schneller Folge ab, so schnell, dass sie stellenweise verschwammen und sich zu einem Bild übereinanderlegten. Niamh spürte, dass sie sich entscheiden musste – dass der Strom der Welten sie zerriss, wenn sie noch länger verharrte. 10 – 9 – 8 – Niamh zählte sich selbst herunter, wenn sie bei Null anlangte, nahm sie den Ort, den sie gerade vor Augen hatte – 7 – 6 – 5 – Externsteine, Stonehenge – 4 – 3 – 2 – Externsteine, Stonehenge – 1 – 0 – Externsteine.

Mit aller Kraft konzentrierte sich Niamh auf alle Einzelheiten der Gesteinsformation, an die sie sich erinnern konnte. Auf zu den Externsteinen. Auf in den Teutoburger Wald. Auf zu den Menschen!

Das Wirbeln wurde stärker, aber immerhin fühlte es sich nicht mehr an, als würde sie gleich in mehrere Teile zerrissen. Niamh atmete einmal tief durch und ließ sich dann vom Strom der Welten forttragen, stemmte sich nicht länger gegen ihn, sondern wurde der Strom. Zumindest für ein paar Sekunden. Dann spürte sie wieder festen Boden unter den Füßen.

Vorsichtig öffnete Niamh die Lider, erst nur einen Spalt weit, dann machte sie die Augen ganz auf. Sie war eindeutig bei den Externsteinen gelandet, direkt auf einem der aufragenden Sandsteinfelsen. Niamh huschte bis zur Kante und spähte nach unten. Doch da war niemand. Sie war allein. Allein mit den Externsteinen und den in der Dunkelheit leuchtenden Ley-Linien.

Enttäuscht setzte Niamh sich hin und ließ die Beine baumeln. Was nun? Sie hatte erwartet, dass sie direkt Menschen sehen würde. Menschen, die die Sommersonnenwende feierten und sich freuten, sie zu sehen. Das war schließlich der ganze Zweck ihrer Reise. Sie wollte ganz sicher nicht nach Hause zurückkehren, ohne mindestens einen Menschen gefunden zu haben, wollte sich nicht erneut von ihren Eltern anhören müssen, dass sie realistisch sein und weniger tagträumen sollte.

Schließlich stand Niamh wieder auf und lief leichtfüßig den Felsen hinab. Wenn die Menschen nicht zu ihr kamen, dann würde sie eben nach den Menschen suchen. Irgendwo mussten doch welche sein. Davon war sie überzeugt. Immerhin gab es die schon einige tausend Jahre lang, da würden sie nicht innerhalb von wenigen Jahrhunderten einfach verschwinden.

Als sie auf dem Boden anlangte, verharrte Niamh einen Moment und schaute sich um. In einer Reihe ragten die einzelnen Felsen der Gesteinsformation über ihr auf. Der, auf dem sie gelandet war, war der höchste der Hauptgruppe, was aber nicht bedeutete, dass die anderen weniger eindrucksvoll gewesen wären. Jeder besaß seine charakteristische Besonderheit, wie sie es auch auf den Abbildungen der Schriftrollen gesehen hatte. Allerdings waren sie in echt deutlich ehrfurchtgebietender. Mit ihren Händen und Füßen spürte sie die Jahrtausende, die der Sandstein bereits überdauert hatte, fühlte die Geschichte mit Fingern und Zehen. Was auch immer die Menschen unter Kraftorten verstanden, allein durch die ganzen Ley-Linien, die sich hier trafen, und die Macht, die sie transportieren, kribbelten Niamhs Fingerspitzen.

Ein letztes Mal berührte sie den Felsen, strich über die raue Oberfläche und tat dann einen Schritt vorwärts. Sogleich sah sie sich in das flackernde Licht von Fackeln und Lagerfeuern gehüllt. Menschen saßen in Gruppen beieinander und redeten und lachten, einige sangen, wieder andere musizierten oder tanzten. Niamh drückte sich in die Schatten der Felsen, spürte das Gestein in ihrem Rücken – und die Szenerie verschwand. Sie war allein. Ein Schritt nach vorne und die Menschen waren wieder da.

In diesem Moment verstand Niamh: Nur wenn sie sich vom Knotenpunkt der Ley-Linien entfernte, trat sie wirklich durch den Schleier hindurch und in die Welt der Menschen. Erst dann konnte sie diese wahrnehmen und umgekehrt waren diese wahrscheinlich auch erst dann in der Lage, sie zu sehen. Sie atmete tief durch, dann löste sie sich erneut von dem Felsen – und lief auf die Menschen zu; allerdings so, dass sie gerade außerhalb des Lichtscheins der Feuer blieb. Sie wollte sich erst umschauen und sich einen Eindruck von den Menschen verschaffen, bevor sie sich ihnen zeigte.

Die ganze Wiese vor den Externsteinen war mit Feuern, Zelten und Menschen bedeckt, viele kleinere und größere Lichtpunkte im Dunkel der Nacht. Wo Niamh auch hinschaute, sie sah Miteinander und Freude. Keinen Streit oder Zwietracht, wie ihre Eltern es berichtet hatten. Alles wirkte friedlich. Nicht gerade ruhig, auch nicht sonderlich geordnet, aber recht harmonisch. Wie ein Fest eben. Ziemlich ähnlich wie das, was parallel auch bei den Feen stattfand.

Wie sollte sie nun allerdings direkten Kontakt mit den Menschen aufnehmen, oder vielleicht zunächst mit einem oder einer von ihnen? Denn, nein, ehrlich gesagt wollte sie sich nicht in die Mitte, neben eines der größeren Lagerfeuer stellen und lauthals ihre Anwesenheit verkünden. Aber wer würde sich für eine vorsichtige Annäherung besonders eignen? Wer war vertrauenswürdig? Und wer glaubte genug an Feen, um sie überhaupt sehen zu können?

Niamh schwang sich in die Luft. Im Kopf ging sie die alten Aufzeichnungen durch. Die, in denen erwähnt wurde, wie Menschen und Feen Handel trieben und welche Gaben die Menschen den Feen traditionell überlassen hatten, um sich zu bedanken, oder überhaupt Feen in ihr Leben einzuladen. Milch fiel ihr ein, Honig und Honigkuchen, anderes süßes Gebäck und Beeren. Met und Wein, wenn sie zu einer Feier bitten wollten.

Niamh drehte einige Runden in sicherer Entfernung, doch als keine Warnrufe laut wurden, sie tatsächlich niemand überhaupt zu bemerken schien, wurde sie mutiger und flog etwas dichter über die Köpfe der Menschen hinweg. Neugierig spähte sie in die Zelte und sah dort neben Decken so einiges, was sie nicht kannte. Zum Beispiel die Kleidung, die diese Menschen trugen. Sie unterschied sich doch sehr von den Abbildungen, die Niamh gesehen hatte. In den Grundzügen erkannte sie zwar Hosen und Jacken, Kleider und Blusen. Aber es war doch anders als auf den Illustrationen. Andere Schnitte, wahrscheinlich auch andere Stoffe. Und viel mehr Farben.

Auch war die Musik ganz anders, als sie es von daheim gewohnt war. Lauter auf jeden Fall. Und stellenweise deutlich weniger … melodiös. Manches konnte Niamh kaum von dröhnendem Lärm unterscheiden – den Menschen schien es trotzdem zu gefallen, wenn sie nach ihren Mienen und Körperbewegungen ging, die wohl eine Art Tanz darstellen sollten. Es gab aber auch positive musikalische Ausnahmen. An einem Lagerfeuer verharrte Niamh eine ganze Weile, hockte sich auf das Zelt und lauschte dem Spiel eines lautenähnlichen Instruments und dem Gesang eines älteren Mannes, der mit seinem Lied eine Geschichte zu erzählen schien. Von Liebe und Schmerz, Freude und Verlust. Inhaltlich unterschied sich die Musik also gar nicht so sehr von dem, was die anderen daheim anstimmen würden.

Da sie immer noch niemand zu bemerken schien, wagte Niamh gar, hier und da ein bisschen zu naschen. Dabei ließ sie sich von ihrer Nase leiten. Die wusste am besten, was ihr auch schmecken würde. Ein paar Schlucke Met, zum Beispiel. Ein bisschen Obst, auch wenn es davon leider nur sehr wenig gab. Etwas Wein, der allerdings so stark war, dass Niamh danach kurz verschnaufen musste, sonst wäre sie wahrscheinlich nicht mehr geradeaus geflogen, sondern schwankend durch die Gegend getrudelt und hätte eher früher als später eine Bruchlandung hingelegt. Zum Glück fand sie ein paar Bissen Brot, mit denen sie die Wirkung des Alkohols etwas abschwächen konnte. Die Menschen schienen ein alkoholseeliges Völkchen zu sein.

Wahrscheinlich klang ihre Musik deswegen auch so schief, überlegte Niamh, als sie sich vorsichtig wieder in die Luft geschwungen hatte und ein Lagerfeuer umflog. Und doch: Die Menschen hatten offenbar Spaß dabei, wirkten fröhlich und zufrieden – und das war doch bei einer Feier die Hauptsache, oder nicht?

Eines nagte nur nach wie vor an ihr: Niemand sah sie. Bedeutete das, dass die Menschen wirklich nicht mehr an Feen glaubten? Dass ihre Eltern recht hatten? Aber warum gab es dann dieses große Fest hier? Wer die Sommersonnenwende feierte, der kannte doch wohl auch die Geschichte hinter Litha – oder nicht?

Nachdenklich zog Niamh weiter ihre Kreise. Verharrte hier und da, wo es etwas ruhiger war. Setzte sich auf die Zeltstangen und beobachtete von dieser leicht erhöhten Position die Menschen. Niemand bemerkte sie. Niemand schaute auch nur in ihre Richtung. Es war, als wäre sie gar nicht da.

Bedrückt flog Niamh an den Rand zurück und ließ sich auf einem Busch nieder. Dabei bemerkte sie eine Gruppe Kinder, die unweit ihres Sitzplatzes herumtollten. Sie liefen lachend und rufend umher, schienen Fangen zu spielen. Neugierig näherte sie sich ihnen und beobachtete sie.

Da deutete eines der Kinder, ein Junge, nach oben und meinte: »Seht mal, das ist aber ein komischer Vogel!«

Die kleine Gruppe blieb stehen, alle starrten in den Nachthimmel.

»Da, ich sehe es auch«, rief ein Mädchen und zeigte auf sie. »Aber das ist kein Vogel, es hat doch gar keine Flügel!«

Eine wilde Diskussion entspann sich darüber, was sie denn nun wirklich sahen. Niamh schmunzelte. Einige der Überlegungen waren wirklich unterhaltsam. Sie könnte ein Glühwürmchen sein, dass sein Glühen verloren hatte. Eine besondere Art Flughund. Ein winziger Drache. Eine Frau, die in den Trockner geraten war und nun fliegen konnte. Auf die Idee, dass sie eine Fee sein könnte, kam aber keines der Kinder.

Niamh erbarmte sich schließlich, hörte auf, über ihnen zu kreisen, und setzte sich stattdessen auf einen niedrigen Ast, der sie etwas über Augenhöhe zu den kleinen Menschen brachte. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Niamh. Eine Fee. Und wie heißt ihr?«

Schweigen antwortete ihr. Die Kinder musterten sie neugierig. Kamen interessiert näher, wohl, um sie aus der Nähe zu betrachten. Als eines von ihnen allerdings die Hand ausstreckte und versuchte, nach Niamh zu greifen, flüchtete sie ein paar Äste höher. »Möchtet ihr euch nicht erst vorstellen?«, fragte sie.

Von der Art her, wie einige der Patschhände, die doch so groß waren wie ihr Kopf, nach ihr langten, war Niamh nicht ganz wohl bei der Sache. Sie wollte sicher nicht gepackt und als Puppe benutzt werden. Dafür erinnerte sie sich zu sehr an einen Abschnitt der alten Schriftrollen, in dem beschrieben wurde, wie manche Menschenkinder mit ihrem Spielzeug umgingen. Wie grob einige ihrer Spiele waren. Zumindest aus Feensicht. Weil diese kleinen Menschen oft ihre eigene Kraft noch nicht einschätzen konnten.

Unter den Protestschreien der Kinder erhob sich Niamh wieder in die Luft. Vielleicht waren diese kleinen Menschen wirklich noch zu jung, um eine Fee als solche erkennen zu können. Sie musste jemanden finden, der alt genug war, um schon zu wissen, dass es Feen gab und wie diese aussahen, aber jung genug, um an sie zu glauben. Denn, so die alten Schriftrollen, im Zweifel waren Kinder diejenigen, die sich auch andere Welten neben ihrer eigenen vorstellen konnten und Wesen, die in diesen lebten. Erwachsene Menschen verloren diese Fähigkeit oft, waren zu sehr damit beschäftigt, weltliche Ziele zu erstreben, als sich mit allem anderen, was daneben existierte, zu befassen.

Die Kinder verfolgten sie noch eine ganze Weile. Immer, wenn Niamh dachte, sie hätte sie abgehängt, tauchte eines ihrer Gesichter wieder hinter einem Zelt auf, zeigte ein kleiner dicker Finger auf sie. Erst, als sie das Gelände einmal durchquert hatte, als sie eine ruhige Ecke gefunden hatte, wo nur ein kleines Feuer brannte und auch gerade keine Menschen in Sicht waren, kam Niamh zur Ruhe.

Sie setzte sich auf einen Busch und verschnaufte. Lauschte, ob sie noch Kindergeschrei wahrnehmen konnte. Spähte in die Richtung, aus der sie gekommen war, ob sie noch kleine Gesichter oder Hände sehen konnte. Doch zu ihrer Erleichterung blieb es ruhig und sie konnte auch keines der Kinder entdecken. Niamh atmete auf. Allerdings war sie zugleich bedrückt, dass sie immer noch niemanden gefunden hatte, der sie sehen konnte – und wusste, dass sie eine Fee war. Ob ihre Suche wirklich aussichtslos war? Sollte sie langsam den Rückweg antreten?

»Na nu, wer bist denn du?«

Eine weibliche Stimme ließ sie zusammenzucken. Niamh schreckte von ihrem Zweig hoch, stieg in die Luft und kam in ihrer übereilten Hast doch nicht weit. Sterne tanzten vor ihren Augen, als ihr Kopf mit einer Zeltstange kollidierte. Ein Dröhnen hallte in ihrem Kopf wider. Sie stürzte ab. Dann bremste etwas Weiches ihren Fall. Niamh blinzelte, sie saß in einer dunklen Masse mit einer klebrigen Konsistenz, versuchte, sich aufzurichten, rutschte aber immer wieder aus. Sie konnte einfach keinen Halt finden, auch hatte sie den Eindruck, dass sie durch ihr Zappeln eher tiefer in der Klebrigkeit versank. Was war das?

»Punktlandung im Schokoladenpudding.« Ein leises Lachen ertönte. »Warte, ich helfe dir.«

Niamh wischte sich über die Augen. Denn, was auch immer Schokoladenpudding sein mochte, war ihr offensichtlich bei ihrer Landung auch ins Gesicht gespritzt und erschwerte ihr die Sicht. Überhaupt schien sie von dem Zeug geradezu bedeckt zu sein.

Als sie wieder einigermaßen sehen konnte, schob sich eine Hand in ihr Blickfeld und ein rundliches Gesicht mit einem freundlichen Lächeln. Mühsam krabbelte Niamh auf die ihr dargebotene Hand. Dabei rutschte sie immer wieder etwas zurück. Dieser Schokoladenpudding war einfach zu glitschig! Als sie sicher auf der Hand saß, hob diese sie hoch und setzte sie auf eine ebene Fläche, über die eine Art Tuch gebreitet war.

»Damit kannst du dich abwischen«, sagte die dunkelhaarige Frau und reichte ihr eine kleinere Variante des Tuchs, auf dem sie saß.

Dankbar griff Niamh zu und rubbelte sich von oben bis unten ab. Dennoch fühlte sie sich immer noch klebrig. Nur zu gerne wäre sie in einen kleinen Bach oder Teich gehüpft, um sich richtig zu waschen.

»Falls du etwas Wasser möchtest«, meinte die Frau, als hätte sie Niamhs Gedanken gehört, »kann ich dir etwas in eine Schüssel gießen. Schokoladenpudding ist zwar lecker, aber darin zu baden, stelle ich mir als eine ziemlich pappige Angelegenheit vor.«

»Ja, bitte«, antwortete Niamh und nickte zur Bekräftigung – und für den Fall, dass die Erwachsene sie ebenso wenig verstand wie die Kinder.

»Gerne. Warte einen Moment.« Damit kramte die Frau in einer Kiste herum, holte eine Schale – für Niamh von der Größe einer kleinen Badewanne – hervor und goss aus einer Flasche Wasser hinein. Dann stellte sie diese vor Niamh ab, die erleichtert hineinglitt und sich wusch – mitsamt Kleidung und Haaren, allem, was sie erreichen konnte, ohne sich vor der Menschenfrau zu auszuziehen.

Als sie sich endlich wieder halbwegs sauber fühlte – und deutlich weniger klebrig – kletterte Niamh wieder aus der Wanne heraus und trocknete sich mit einem frischen Tuch ab, das die Dunkelhaarige ihr reichte.

»Ich bin übrigens Fee«, sagte sie, als Niamh sich klamm, aber ansonsten wieder einigermaßen zufrieden neben die Schale setzte.

Niamh runzelte die Stirn. »Eine Fee? Dafür bist du doch viel zu groß.«

Die Frau lachte. »Nein, nein. Mein Name ist Fee – eigentlich Feodora, nach irgendeiner Urgroßtante, aber alle nennen mich Fee. Und du?«

»Ich bin eine Fee, aber ich heiße nicht so. Mich nennen alle Niamh.«

»Niamh«, wiederholte Fee. »Ein schöner Name. Und dass du eine Fee bist, wusste ich natürlich schon.«

»Woher wusstest du das?« Auf die Antwort war Niamh besonders gespannt.

»Ich habe zwar noch nie eine gesehen – erst recht mit keiner gesprochen -, aber ich habe über euer Volk gelesen. Und auch einige Zeichnungen gesehen, allerdings waren die doch sehr unterschiedlich. Die Menschen, die sich über die Jahrhunderte mit Feen beschäftigt haben, konnten sich wohl oft nicht entscheiden, ob sie nun Feen oder Elfen oder Gnome oder Wichtel oder noch andere Wesen gesehen haben wollten.«

Niamh zog die Nase kraus. »Wer eine Fee nicht von einem Gnom unterscheiden kann, hat wohl keine Augen im Kopf!«

»Das glaube ich dir sofort.« Fee grinste. »Aber nun sag doch mal: Was hat dich hierher geführt? Soweit ich weiß, hat man schon sehr lange keine Feen mehr in unserer Welt gesehen.«

»Nun, ich war neugierig«, erwiderte Niamh. »Und ich wollte herausfinden, ob es euch Menschen noch gibt. Seit dem Fall des großen Schleiers vor 500 Jahren hat nämlich auch keine Fee mehr einen Menschen gesehen.«

»Der Fall des großen Schleiers? Davon musst du mir mehr erzählen!« Fee zog sich einen Klappstuhl heran und setzte sich zu Niamh. »Aber zuerst: Möchtest du eine Schale Schokoladenpudding dazu?«

Misstrauisch beäugte Niamh die klebrige Masse, in der sie zuvor gelandet war. »Den kann man wirklich essen?«

Fee nickte. »Ich finde ihn echt lecker. Deshalb habe ich auch so viel davon gemacht. Aber ich teile gerne.«

»Ooookay.« Niamh nickte. »Aber nur ein bisschen. Zum Probieren.«

Zögerlich tunkte sie kurz darauf einen Finger in das Gefäß, das Fee ihr reichte. Da alle Löffel, die die Menschenfrau dabei hatte, für Niamh zu groß und zu unhandlich waren, aß sie mit ihren Fingern. Immerhin wusste sie ja jetzt, wie sie das klebrige Zeug wieder los wurde. Sie kostete. Süß. Schokoladig. Eigentlich ganz in Ordnung. Vielleicht sogar lecker, sollte sie jemals das Gefühl abschütteln können, wie es gewesen war, unversehens in der Masse zu baden.

Während sie einträchtig den Schokoladenpudding aßen, erzählte Niamh. Vom Fall des großen Schleiers. Von der Kluft, die sich schon vorher zwischen den Menschen und Feen aufgetan hatte. Davon, wie sie selbst davon erfahren hatte, dass eigentlich mal ein reger Reiseverkehr zwischen ihren Welten bestanden hatte. Und natürlich davon, wie sie hergekommen war.

»Nur weil heute Sommersonnenwende ist, habe ich mich überhaupt getraut, es zu versuchen«, schloss sie. »Sonst hätte ich den Schleier sicherlich nicht durchdringen können.«

»Und wie kehrst du wieder in deine Welt zurück?«, fragte Fee.

»Auf demselben Weg, wie ich hergekommen bin. Allerdings muss ich das machen, bevor die Sommersonnenwende vorbei ist.«

Fee schaute nach oben und musterte den Himmel.

Niamh folgte ihrem Blick. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie am Horizont einen leichten roten Schimmer zu bemerken meinte und sah, dass es längst nicht mehr so dunkel war wie bei ihrer Landung im Schokoladenpudding. Über ihr Gespräch mussten einige Stunden vergangen sein!

»Ich muss los!« Schnell sprang sie auf, tunkte ihre klebrigen Hände in die Wasserschale und trocknete sie ab. Sie stieg in die Luft, startete schon Richtung Externsteine, verharrte aber noch mal kurz. »Danke für den Pudding«, rief sie Fee zu.

Die winkte ihr zu. »Gerne. Schön, dich kennengelernt zu haben. Werden wir uns wiedersehen?«

Niamh hob die Schultern. »Vielleicht bei der nächsten Sommersonnenwende.« Damit flog sie los, so schnell sie konnte, den Externsteinen entgegen.

Möchtet ihr nun auch die anderen vier Kurzgeschichten dieses Monats lesen?

Die findet ihr hier:

Weitere Informationen zur Entstehung der Aktion #phantastischermontag gibt’s z.B. hier. Oder ihr könnt auch auf der facebook-Seite der Aktion vorbeischauen, da werden alle Geschichten gesammelt.