Eulen im Schnee

Persephone segelte lautlos von ihrem Ast herab und landete wenig später neben Athene, die sich so sehr aufgeplustert hatte, dass sie wie ein kleiner flaumiger Federball aussah. Trotzdem wirkte die Steinkauz-Dame, als wäre ihr weiterhin furchtbar kalt. Persephone breitete einen Flügel aus, sodass dieser den eisigen Wind von Athene abhielt und dafür sorgte, dass weniger Schneeflocken sich auf deren Gefieder niederließen.

»Da-Danke«, sagte Athene bibbernd.

Persephone knappte mit ihrem Schnabel und schaute zu der Steinkauz-Dame herab. »Wieso bist du nicht in deiner Schlafhöhle , wenn dir so kalt ist?«

»Hu-Hu-Hungrig.« Athenes zitronengelbe Augen blickten Persephone so verhungert und verloren an, dass die Waldohreule sogleich Mitleid bekam.

Trotzdem hakte sie nach: »Wenn du Hunger hast, wieso sitzt du dann hier wie festgefroren und jagst nicht stattdessen nach Futter?«

»K-Kalt«, stieß Athene leise hervor und rückte vorsichtig näher an Persephone heran.

Die ließ die Steinkauz-Dame gewähren. Schließlich wollte sie nicht, dass der kleine Ball aus Flaum und Federn erfror.

Eine ganze Weile saßen die beiden einfach da, nebeneinander auf dem Ast der alten Eiche und sahen dem Schneegestöber zu. Erst als Athene weniger zitterte und auch insgesamt etwas ruhiger wirkte, blickte die Waldohreule zu dem kleinen Steinkauz herab und fragte: »Fühlst du dich fit genug, um eine Runde zu drehen?«

Athene stieß einen zustimmenden Laut aus, schüttelte ihr Gefieder und putzte sich. Persephone tat es ihr gleich, ließ dabei allerdings zunächst den Flügel aus, mit dem sie weiterhin die Steinkauz-Dame vor der Witterung abschirmte. Diesen putzte sie als Letztes und erhob sich dann geräuschlos in die Luft. Athene folgte ihr etwas langsamer und mit deutlich mehr Flügelschlägen.

Mit scharfem Blick und noch schärferen Ohren hielten sie nach Beute Ausschau. Persephone lauschte auf das Fiepen von Mäusen, Athene suchte außerdem nach Anzeichen für kleinere Vögel, wenngleich sie auch gegen Insekten nichts einzuwenden hatte. Hauptsache Nahrung. Am besten bald – bevor ihr wieder viel zu kalt wurde und bevor die Schneeflocken noch dichter wurden.

Durch den Schnee hoben sich die Formen und Bewegungen ihrer Umgebung trotz der einsetzenden Dämmerung wie Scherenschnitte vor dem Weiß ab. Nicht, dass es ihnen sonst schwergefallen wäre, mit ihren lichtempfindlichen Augen genug zu erkennen … Trotzdem war die leichte Schneedecke, die sich auf den Boden und die Büsche gelegt hatte, ganz praktisch.

Persephone lauschte auf das leise Rascheln einiger Grashalme, als ein kleines Tier zwischen ihnen hindurch lief, und das Fiepen mehrerer Mäuse. Zielsicher ortete sie die Geräuschquelle und spürte, dass Athene neben ihr dasselbe tat – zu zweit konnte ihnen die Beute im Fellüberzug gar nicht entkommen. Instinktiv richtete sie ihre Flugrichtung auf die Mäuse aus und näherte sich ihnen dicht über dem Boden. Die Spitzen der Grashalme waren nur wenige Zentimeter von ihren Schwingen entfernt. Im Rüttelflug verharrte sie kurz über dem Tier, das sie sich auserkoren hatte, dann stieß sie herab. Laut hallte das ängstliche Fiepen in ihren scharfen Ohren wider, sie streckte die Krallen aus und schlug sie in den Rücken des kleinen Tieres, dann tötete sie es schnell mit einem gezielten Genickbiss.

Mit der Beute in ihren Krallen erhob sich Persephone erneut in die Luft und ließ sich auf dem niedrigen Ast eines nahen Ahorns nieder und verschlang ihre Maus. Dabei beobachtete sie Athene. Auch diese hatte sich ihr Opfer ausgewählt und ging in den Sinkflug über, kreiste einen Moment dicht über dem Boden, bevor sie landete und dem Tier im schnellen Lauf nachsetzte. Bald darauf verstummte auch das Fiepen dieser Maus und die Steinkauz-Dame landete, etwas unbeholfen durch ihre Last, neben Persephone.

Als Athene ihre Beute verschlang, schluckte sie so heftig, als wollte sie die Maus geradezu in sich hineinsaugen. Amüsiert sah die Waldohreule ihr dabei zu. Es fiel ihr schwer, nichts zu sagen, allerdings fürchtete sie, dass die Steinkauz-Dame sich erst recht verschlucken würde, wenn sie dieser zur Mäßigung riet. Sie musste wirklich ausgehungert sein.

Also wartete Persephone ab – bis Athene ihre Beute ganz verschlungen hatte und aussah, als würde sie überlegen, ob ihr erster Hunger gestillt war, oder ob sie mehr Nahrung brauchte. »Geht es dir wieder besser?«, fragte Persephone.

Die Steinkauz-Dame schaute die Waldohreule an. »Ich glaube schon. Zumindest habe ich nicht mehr das Gefühl, als wäre mein Magen ein riesiges Loch in meiner Körpermitte.«

»Ich würde sagen, das ist ein gutes Zeichen. Was macht die Kälte?«, hakte Persephone nach.

»Auch etwas weniger schlimm. Essen hilft.«

»Was hältst du davon, wenn wir dich richtig aufwärmen? Oder brauchst du noch eine Maus?«

Athene schwieg einen Moment. »Ich glaube, warm wäre gut«, sagte sie dann und putzte sich mit dem Schnabel erneut kurz das Gefieder.

Persephone tat es ihr gleich. Dann stieß sie sich vom Ast ab und segelte lautlos in die Richtung von Athenes Schlafhöhle. Nur hin und wieder tat sie einen Flügelschlag, damit sie den deutlich kleineren Steinkauz nicht vollends abhängte.

An der alten Kastanie angekommen, in der Athene hauste, ließ sich Persephone auf einem Ast neben dem Zugang zur Schlafhöhle nieder. Bald darauf kam auch die Steinkauz-Dame an. Gemeinsam setzten sie sich in die Aushöhlung des Baumes und kuschelten sich aneinander.


 

Diese Geschichte ist ein kleiner Spin-off zu meinem Roman »Das Lied des Herbstmondes« (2021), in dem auch so einige Eulenartige auftauchen – unter anderem welche mit den Namen dieser Eulen.

Für diejenigen, die das Buch noch nicht kennen, gibt es z.B. hier weitere Infos:
– Beitrag zum Coverreveal
– Beitrag zur Veröffentlichung

Außerdem ist dieser Text Teil des Autoren-Adventskalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem*r anderen Autor*in rund um die Themen Winter, Advent und Weihnachten. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten der Vorjahre stöbern.