Gefiederte Kissenschlacht

Ein sonderbares Geräusch weckte Athene. Langsam hob sie die Lider und blinzelte. Es hatte nach Vogel geklungen – und zugleich auch nicht. Auf den Ästen um sie herum saßen die anderen Vögel, maßgeblich weitere Käuze sowie größere Eulen. Die meisten schliefen, nur hier und da bewegte sich eine Kralle oder zuckte ein Schnabel.

Auf den ersten Blick sah Athene nur zwei Eulen, die nicht schliefen: Demeter und Persephone hatten in einer Ecke die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich leise. Doch von den beiden Waldohreulen war das sonderbare Geräusch sicherlich nicht gekommen.

Athene lauschte. Von draußen drangen die üblichen Geräusche des Tages herein: Das Zwitschern einiger Singvögel, das leise Trappeln einiger Mäuse, die etwas lauteren Hopser eines Kaninchens – und das musste ein Wiesel sein, das durchs Gras huschte. Nichts davon klang wie der Laut, den sie zuvor vernommen hatte.

Sie verharrte noch einen Moment, dann schloss sie erneut die Augen. Vielleicht hatte sie das Geräusch auch nur geträumt.

Athene hatte es sich gerade gemütlich gemacht, sah sich schon im Halbschlaf über die Baumwipfel segeln, die ihre jungen Triebe dem Frühlingshimmel entgegenreckten, als sie es erneut hörte: eine Art Schaben oder Kratzen wie von Vogelkrallen und dann ein dumpfes Geräusch. Ein Plumpsen? Und zwar ziemlich genau unter ihr.

Wieder sah sie sich um, doch niemand von den anderen schien sich durch das Geräusch gestört zu fühlen oder es auch nur bemerkt zu haben. Persephone und Demeter hatten inzwischen die Augen geschlossen und die übrigen Eulen schlummerten weiterhin friedlich. Aber nun war Athene sicher, dass sie es nicht geträumt hatte. Das Geräusch war echt. Nur was war es? Und wer hatte es erzeugt?

Sie erhob sich, trat vorsichtig bis an den Rand ihres Asts, um besser nach unten schauen zu können, und reckte den Kopf nach vorne. Im Halbdunkel der Scheune machte sie einen Schemen am Boden aus – mit einer äußerst sonderbaren Form. Der Körper war leicht zylindrisch, aber wirkte irgendwie zerbeult. Die Krallen und der Schnabel waren eindeutig vogelähnlich, aber erinnerten Athene an keine Vogelart, die sie kannte. Und die Flügel … die sahen auch irgendwie falsch aus.

Athene breitete ihre Schwingen aus und glitt lautlos nach unten.

Als sie vor dem geflügelten Etwas auf dem Boden gelandet war, blinzelte Athene mehrfach, um sicher zu sein, dass sie wirklich sah, was vor ihr hockte. Es war ein Vogel und gleichzeitig keiner. Gelb-orangefarbene Beine und Krallen, ein Schnabel in derselben Farbe, helle, fast weiße Augen mit schwarzer Pupille und ein Paar Flügel, die zwischen Braun und Gelb mit einem Stich Grün changierten. Und dazwischen … eine Kartoffel? Das konnte nicht sein!

Ob sich jemand einen Aprilscherz mit ihr erlaubte? Oder hatte Odette vielleicht irgendeinen Zauber gewirkt, der gründlich schief gegangen war? Was sollte das darstellen? Eine Vogelkartoffel? Einen Kartoffelvogel?

»Was – wer bist du?«, fragte sie.

»Ei-ein Kartoffelvogel«, erwiderte das Wesen und wich einen unsicheren Schritt zurück.

»Du bist ein Kartoffelvogel? Und du heißt auch so?« Athene legte skeptisch den Kopf schief.

»Ja. Wobei … eigentlich habe ich gar keinen Namen. Bis vor Kurzem war ich einfach nur eine Kartoffel, die eben auf einem Feld lebte. Und dann wachte ich, nun ja, so auf.« Der Kartoffelvogel breitete die Flügel aus.

»Du warst eine Kartoffel?« Nun war Athene ziemlich sicher, dass sich jemand einen Aprilscherz mit ihr erlaubte. Schließlich sprossen Kartoffeln für gewöhnlich keine Flügel oder Schnäbel.

»Ich kann es mir auch nicht erklären. Aber eines Tages hatte ich plötzlich Flügel – und alles andere.« Der Kartoffelvogel ließ die Flügel hängen und scharrte leicht mit den Krallen.

Athene blinzelte. Waren das Tränen in den Augenwinkeln des Kartoffelvogels? »Bist du unglücklich, dass jetzt alles anders ist?«, fragte sie vorsichtig.

Der Kartoffelvogel schwieg einen Moment und sagte dann leise: »Ich … Ich weiß nicht, wo ich jetzt hingehöre. Sicher nicht mehr auf den Acker, da würden mich die anderen Kartoffeln nur auslachen. Aber die Vögel, mit denen ich bisher gesprochen habe, wollten mich auch nicht aufnehmen.«

»Und deshalb bist du jetzt hier? Weil du ein neues Zuhause suchst?«

»Ja. Oder auch nur einen Platz für die Nacht. Oder ein paar Stunden Gesellschaft. Oder ein nettes Gespräch.« Der Kartoffelvogel fuhr sich verstohlen mit einem Flügel über die Augen.

»So schlimm?« Athene war weiterhin unsicher, was sie von dem Auftauchen des Kartoffelvogels halten sollte, aber irgendwie tat er ihr auch leid.

Der Kartoffelvogel verzog das Gesicht, als wüsste er nicht so recht, was er erwidern sollte.

Und da Athene ihn nicht quälen wollte, wechselte sie das Thema: »Ich weiß zwar nicht, was die anderen davon halten, dich hier aufzunehmen, aber ich könnte dich zumindest etwas herumführen. Dann hast du etwas Gesellschaft. Und wir unterhalten uns. Also, zwei Punkte von deiner Liste.«

Der Kartoffelvogel richtete sich auf, ein Hauch von Hoffnung schien in seinen Augen zu schimmern.

Auch wenn er nichts sagte, wertete Athene das als Zustimmung und setzte sich in Bewegung. »Kennst du schon den Innenhof?«, fragte sie über ihre Schulter hinweg.

Der Kartoffelvogel schloss zu ihr auf. »Ja, ich bin da vorne aufs Gelände gekommen.« Mit einem Flügel zeigte er auf eine Lücke in der Begrenzungsmauer.

Für einen Moment betrachtete Athene seinen Flügel, dann fragte sie geradeheraus: »Kannst du eigentlich auch fliegen?«

»Ehrlich gesagt: Ich bin nicht sicher. Als ich meine Flügel zuerst entdeckte, habe ich es versucht, bin aber schnell wieder auf dem Boden gelandet. Und danach habe ich mich nicht mehr getraut.« Der Kartoffelvogel senkte den Blick.

»Ich könnte dir Flugunterricht geben.«

»Das würdest du tun?«

»Na, wir Vögel können auch nicht gleich fliegen, wenn wir auf die Welt kommen. Wir müssen es lernen. Und du hattest niemanden, der es dir beibringen konnte. Bis jetzt …« Athene stupste den Kartoffelvogel leicht mit einem Flügel an.

»Wirklich?«

»Ja-ha, wirklich. Und jetzt komm, oder willst du den Tag damit verbringen, hier einfach in der Gegend herumzustehen?« Athene lief weiter über den Innenhof auf das Hauptgebäude des Anwesens zu.

Der Kartoffelvogel folgte ihr.

In den nächsten Stunden erkundeten die beiden nicht nur so einige der Räume des weitläufigen Gebäudes, sondern Athene zeigte dem Kartoffelvogel – den sie inzwischen ‚Toffi‘ getauft hatte – auch die Grundlagen des Fliegens. Nach den ersten Fehlversuchen stellte er sich gar nicht so schlecht dabei an. Allerdings würde er vermutlich nie der windschnittigste aller Vögel werden, dafür war im Verhältnis zu seiner Flügelspannweite sein Kartoffelkörper einfach zu groß und zu schwer. Aber er machte Fortschritte – und freute sich sehr darüber.

»Siehst du, wie ich fliege?«, jubelte er, als er über die Anrichte in Odettes Küche segelte.

»Ich sehe dich.« Athene, die auf einem Beistelltisch saß und ihn beobachtete, schüttelte innerlich über seine Begeisterung den Kopf, erfreute sich aber auch daran. Es war schön, ihn so glücklich zu sehen. Erst recht im Unterschied zu dem unglücklichen und unsicheren Wesen, als das sie ihn kennengelernt hatte.

Sie erhob sich ebenfalls in die Luft, als Toffi – unter heftigem Flügelschlagen – aus der Küche auf den Gang flog, und folgte ihm. Nicht, dass er irgendwo eine Bruchlandung hinlegte.

Lautlos glitt sie hinter ihm den Gang entlang, schloss etwas zu ihm auf, aber nie so viel, dass er sich herausgefordert fühlte, schneller zu fliegen, als er sich zutraute – oder tatsächlich konnte. In jedem Raum, an dem sie vorbeikamen, drehte er eine kleine Runde, verschnaufte kurz und stieg dann schwerfällig, aber voller Tatendrang erneut in die Luft.

So kamen sie schließlich auch im Wintergarten an. Einem Raum, der sich mit vielen hohen Fenstern dem Wald öffnete, der Teil des Anwesens war.

Gerade noch rechtzeitig bremste Toffi vor den Glasscheiben ab und landete – okay, plumpste – auf einige Kissen. Fasziniert sah er sich um. »Was ist das hier? Es wirkt, als wären wir gleichzeitig drinnen und draußen.« Er wippte auf den Kissen. »Und es ist unglaublich bequem!«

Athene gluckste. »Als ich noch recht klein war, habe ich mich mal nach hier verflogen – und wäre fast mit Karacho gegen eine der Scheiben gesaust. Diese Fenster sind wirklich trügerisch. Aber man gewöhnt sich dran. Und der Vorteil ist: Wir können rausschauen, ohne dass wir zum Beispiel nass werden, wenn es regnet. Sehr praktisch.« Sie ließ sich auf einem kleinen Kissen nieder. »Und wenn Odette nicht da ist, haben wir hier auch schon die eine oder andere Kissenschlacht veranstaltet.«

»Eine Kissenschlacht?«

Athene erhob sich einige Zentimeter in die Luft, ergriff das Zierkissen mit ihren Klauen, stieg höher und flog dann in einem großen Bogen auf Toffi zu. Erst im letzten Moment, als sie schon seine geweiteten Augen aus nächster Nähe sah, tat sie einen einzelnen Flügelschlag, um nicht mit ihm zusammenzustoßen – und warf das Kissen auf seinen Kopf.

Der Kartoffelvogel stieß einen quietschenden Laut aus, kippte vor Schreck um und verschwand für einen Moment mitten zwischen den aufgetürmten Kissen. Als er sich wieder daraus hervor gewühlt hatte, sah er Athene vorwurfsvoll an. »Du hättest mich zumindest vorwarnen können.«

»Das hätte ich tun können«, räumte die Steinkauzdame ein, »aber dann hätte es viel weniger Spaß gemacht.« Sie schnappte sich erneut ein kleines Kissen und stieg wieder in die Luft.

Diesmal allerdings ließ sich Toffi nicht überraschen. Er schlug mit den Flügeln und kreiste bald darauf durch den Raum, sodass er kein allzu leichtes Ziel mehr für Athene war. Sie traf ihn schließlich trotzdem, doch nun lachte er darüber und rappelte sich schnell wieder auf, sodass die Verfolgungsjagd erneut beginnen konnte. Danach dauerte es nicht lange, bis er ebenfalls mit einem kleinen Kissen in den Klauen, leicht schwankend in der Luft flatternd, seinerseits versuchte, Athene abzuwerfen.

Und als des Abends die anderen Vögel erwachten, schlossen sich diese nur zu gerne der gefiederten Kissenschlacht an …

Diese Geschichte, die es heute passend zum „Tag der Kissenschlacht“ – und natürlich zum 1. April – gibt, ist ein kleiner Spin-off zu meinem Roman »Das Lied des Herbstmondes«, in dem auch so einige Eulenartige auftauchen – unter anderem welche mit den Namen dieser Eulen. Einige davon tauchen auch in meiner Kurzgeschichte »Eulen im Schnee« auf.

Für diejenigen, die das Buch noch nicht kennen, gibt es z.B. hier weitere Infos:
– Beitrag zum Coverreveal
– Beitrag zur Veröffentlichung

Der Kartoffelvogel, der in dieser Kurzgeschichte ebenfalls vorkommt, stammt nicht aus »Das Lied des Herbstmondes«, sondern entstand als fixe Idee im Rahmen eines Online-Talks. Die kurze Ursprungsgeschichte dieses Wesens erzählt Die Legende des Kartoffelvogels.

Außerdem ist dieser Text Teil des Osterspecials des Autoren-Adventskalenders. Dort versteckt sich hinter jedem Türchen ein Beitrag von einem*r anderen Autor*in rund um die Themen Ostern und Frühling. Zusätzlich zu dem Kalender von diesem Jahr könnt ihr auch in den Geschichten, Gedichten und sonstigen Texten der Vorjahre stöbern.